Analyse und Interpretation von Kafkas „Der Geier“

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Einleitung: Die Kurzgeschichte „Der Geier“

Die Kurzgeschichte „Der Geier“ von Franz Kafka handelt von einem Mann, der von einem einzelnen Geier attackiert und verletzt wird. Er kann sich jedoch nicht wehren, da der Geier ihn sonst im Gesicht verletzen würde; er lässt sich lieber die Füße anstatt das Gesicht verletzen. Ein anderer Mann, der das Geschehen beobachtet, bietet dem verletzten Mann an, den Geier zu erschießen, jedoch muss er erst sein Gewehr holen. Als er nun sein Gewehr von zu Hause holt, tötet der Geier, der das Gespräch mithörte, den Mann, indem er ihn in den Kopf sticht.

Inhalt und Aufbau der Parabel

Die Parabel „Der Geier“ von Franz Kafka handelt von einer Person, deren Füße von einem Geier zerhackt werden und die schließlich von diesem getötet wird.

Die drei Sinnabschnitte

  • Erster Abschnitt (Z. 1-6): Der Ich-Erzähler beschreibt betont sachlich seine Lage. Er erzählt, wie der Geier immer wieder seine „Arbeit“ unterbricht, um ihn zu umfliegen und danach fortzufahren. Irgendwann kommt ein Mann dazu, sieht kurz zu und fragt dann, warum der Erzähler den Geier erduldet.
  • Zweiter Abschnitt (Dialog): Dies ist der längste der drei Sinnabschnitte, nahezu vollständig gefüllt von einem Dialog zwischen dem Erzähler und dem Fremden. Zu Beginn erklärt der Erzähler, warum er den Geier erduldet: Er bezeichnet sich selbst als dem Geier unterlegen. Der fremde Mann bietet dem Leidenden an, den Geier zu erschießen, allerdings müsse er dafür sein Gewehr von zu Hause holen. Obwohl er sich nicht sicher ist, ob er lange genug durchhalten wird, bittet der Erzähler den Mann, sein Gewehr zu holen.
  • Dritter Abschnitt (Ende): Nach diesem Gespräch der zwei Protagonisten erfährt der Leser, dass der Geier dem Dialog genau folgen konnte und daraufhin den Erzähler in einem selbstmörderischen Angriff tötet, bei dem er dann auch selbst verendet.

Erzählperspektive und Charaktere

Die Kurzgeschichte ist in der Ich-Form geschrieben, wobei der Ich-Erzähler der Mann ist, der vom Geier verletzt und am Ende getötet wird. Der andere Mann, der zur Hilfe kommen will, wird in der Geschichte als „Herr“ bezeichnet. Die Bezeichnung „Herr“ meint hierbei nicht, dass der verletzte Mann dessen Diener ist. Es ist vielmehr eine andere Bezeichnung für einen Mann, denn im Text heißt es: „Es kam ein Herr vorüber...“.

Ort, Zeit und Erzählweise

Ort und Gegenstände

Die Geschichte spielt an keinem festen Ort; das heißt, es wird nicht von Handlungsräumen gesprochen, sondern es wird dem Leser selbst überlassen, sich den Raum vorzustellen. Es sind ebenfalls keine wichtigen Gegenstände in der Geschichte vorhanden, außer man bezeichnet den Geier, der eine der Hauptpersonen ist, als Gegenstand. Dann würde er einen großen Stellenwert einnehmen, denn die ganze Geschichte handelt nun einmal vom Geier.

Zeitverhältnis und Handlungsfolge

Die Kurzgeschichte ist in Dialogform geschrieben, das heißt, dass sich zwei Personen unterhalten. Die Zeit, die diese beiden Personen dafür benötigen, ist die erzählte Zeit und in etwa auch die Zeit, die man zum Lesen benötigt. Daher kann man dieses Zeitverhältnis als Zeitdeckung bezeichnen, denn die Erzählzeit ist synchron mit der erzählten Zeit. Die Handlungsfolge ist chronologisch aufgebaut, denn die Handlung folgt der natürlichen Zeitfolge.

Charakterisierung durch Dialoge

Die Personen sind durch die Dialoge indirekt charakterisiert. Durch das Verhalten der Personen beim Sprechen und in der Beziehung zur anderen Person kann man die Charakterzüge erahnen.

Charakterzüge der Protagonisten

Der als „Herr“ bezeichnete Mann scheint sehr hilfsbereit zu sein, denn obwohl er auch gefährdet ist, bietet er dem verletzten Mann an, nach Hause zu gehen, sein Gewehr zu holen und den Geier zu erschießen. Durch diese Hilfe wirkt er sehr mutig. Der andere Mann ist hingegen hilflos und etwas gleichgültig. Er weiß nicht so recht, was er tun soll, und anstatt dass er etwas Falsches tun könnte, tut er lieber gar nichts und lässt den Geier machen, was dieser will.

Erzählhaltung und Sprache

Die Erzählhaltung der Kurzgeschichte ist sehr detailliert, aber trotzdem kurz und bündig. Franz Kafka beschreibt sehr genau, was der Geier macht, als er den Mann tötet oder die Füße verletzt, aber er macht dies in einem Stil, der keinesfalls langwierig und langweilig wirkt. Die Sprache der Geschichte ist einfach, verständlich und relativ modern; das heißt, es werden keine komplizierten Wörter benutzt und der Satzbau relativ kurz gehalten.

Kafka-typische Elemente und Interpretation

Neben einigen speziellen Eigenheiten enthält die Parabel „Der Geier“ viele Kafka-typische Elemente, die man auch in vielen seiner anderen Werke erkennen kann.

Der Geier als Autorität und Vaterfigur

So scheint es zwar oberflächlich keine auffallende übergeordnete Autorität zu geben, doch kann man den Geier bei genauerem Hinsehen als Autorität ausmachen. Er hat eine solche Macht über den Erzähler, dass dieser nicht einmal auf die Idee zu kommen scheint, vor dem Geier zu fliehen. Stattdessen lässt er diesen in seine Füße hacken. Ungewöhnlich für Kafka, lässt sich diese Autorität sehr direkt auf dessen Vater übertragen, von dem sich Kafka auch nie zu lösen vermochte. Unterstützt wird dieser Interpretationsansatz durch die Tatsache, dass der Geier „in die Füße selbst“ (Z. 2) hackt. Da der Geier ihm „schon ins Gesicht springen“ (Z. 9f) wollte, habe der Erzähler lieber die Füße geopfert. Durch das „Anbieten“ der Füße, also des untersten Körperteils, wird das Problem – der Geier – ins Unterbewusstsein verdrängt. Auch Kafka hat schließlich nicht immer und zu jeder Zeit an seinen Vater gedacht, dennoch lässt sich dessen Einfluss in nahezu allen Werken Kafkas nachweisen. Und in Momenten wie dem Schreiben des „Briefs an den Vater“ wurde der Vater dann wieder ins volle Bewusstsein geholt, symbolisiert durch den Sprung des Geiers in das Gesicht des Ich-Erzählers.

Der Rechtfertigungszwang

Ebenso deutlich hervor tritt der Rechtfertigungszwang, der aus anderen kafkaschen Werken bekannt ist. Der gesamte vierte Absatz (Z. 7-11) ist eine einzige Rechtfertigung für die Duldung des Geiers. Folgerichtig beginnt er bereits mit einem Argument zur Entlastung des Erzählers: „Ich bin ja wehrlos“ (Z. 7). Wenn der Erzähler im letzten Absatz erwähnt, dass der Geier „alles verstanden hatte“ (Z. 21f), wird deutlich sichtbar, dass Kafka sich bewusst war, dass er sich insgeheim immer auch seinem Vater gegenüber rechtfertigte, da er selbst sich immer als ungenügend und seines Vaters unwürdig empfand und bezeichnete.

Das Erlösungsmotiv

Auch das Ende der Erzählung weist klare Parallelen zu anderen Werken des Autors auf. Der Erzähler sagt, er habe sich „befreit“ (Z. 25) gefühlt, als er infolge des Angriffs durch den Geier starb. Dieses Erlösungsmotiv, bekannt zum Beispiel aus „Die Verwandlung“, ist ein weiteres Merkmal kafkascher Texte.

Intention und Fazit

Die Intention, die Franz Kafka in den Text brachte, ist nicht leicht zu erkennen. Vielleicht will er uns sagen, wie wichtig es für einen Menschen mit einem Problem ist, Hilfe von Fremden zu bekommen. Diese Hilfe darf aber nicht lange auf sich warten lassen oder sich hinziehen, da es sonst zu spät sein kann. In der Geschichte braucht ein Mann Hilfe, sonst würde er sterben. Er bekommt zwar die Hilfe, da aber der andere „Herr“ die Hilfe nicht sofort anbieten kann und weggeht, muss der Mann sterben. Die Hilfe ist für diesen Mann besonders wichtig, denn zudem ist er auch noch hilflos dem Problem ausgeliefert, das er nicht allein bewältigen kann.

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Parabel „Der Geier“ ein Text ist, an dem sich viele typische Eigenheiten kafkascher Schreib- und Erzählweise sehr gut und deutlich aufzeigen lassen. Im Besonderen ist hier die angesprochene dauerhafte Anwesenheit von Franz Kafkas Vater im Unterbewusstsein seines Sohnes zu nennen.

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