Analyse von Isabel Allendes 'Das Geisterhaus': Themen & Charaktere
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Politik und Gesellschaft im "Geisterhaus"
Das Geisterhaus erzählt die Geschichte der Familie Trueba über drei Generationen. Während dieser Zeit durchlebt Chile eine Reihe von Umwälzungen, die sich eindeutig auf die Familie auswirken. So verknüpft Isabel Allende die persönliche Geschichte mit der Sozialgeschichte. Chile erlangte erst spät seine Unabhängigkeit (1818), die unter der Herrschaft des Obersten Direktors O'Higgins wirksam wurde. Bis dahin galt das "Naturrecht", bei dem der Stärkste befahl und der Rest gehorchte. Da das Land, insbesondere in ländlichen Gebieten, weitgehend unbewohnt war, war die Durchsetzung von Gesetzen schwierig. Diese Rolle wurde durch die Figur des Gutsherrn (Patrón) ersetzt, der als Eigentümer des Landes den Bauern ihren Lebensunterhalt sicherte und dafür im Gegenzug das Recht beanspruchte, im mittelalterlichen Stil über sie zu verfügen. Der Gutsherr war eine Respektsperson (man erinnere sich, wie Tránsito Soto ihrem ehemaligen Gönner hilft und ihn trotz seiner nun schwächeren Position respektvoll mit "Ich schulde Ihnen noch einen Gefallen, Patrón" anspricht).
Im Jahr 1826 wurde in Chañarcillo Silber entdeckt, was in Chile einen "Goldrausch" auslöste. Dies spiegelt sich im Roman in Esteban Truebas Entscheidung wider, nach Gold zu schürfen. Doch nicht der Goldfund begründet seinen Reichtum, sondern dient nur als Mittel, um das Erbe seines Vaters zu mehren, welches der wahre Grund für den Aufstieg der Familie Trueba ist. 1821 kam es zu einem Bürgerkrieg zwischen dem Präsidenten und dem Kongress, der mit dem Sieg des Letzteren endete – ein weiteres Beispiel dafür, wie eine Oligarchie der Mächtigen die Macht an sich reißt.
1946 trat der kommunistische Präsident Gabriel González sein Amt in der chilenischen Regierung an. Während des Kalten Krieges war diese Regierung jedoch für die Vereinigten Staaten und die mächtige Gruppe der Großgrundbesitzer unbequem. Im Geisterhaus spiegeln sich revolutionäre Ideen in der Figur des Landarbeiters Pedro Tercero wider, der die Geschichte seines Großvaters erzählt: "Wenn die Hühner zusammenhalten, können sie den Fuchs besiegen." 1958 kam der Konservative Jorge Alessandri an die Macht und leitete eine Ära konservativer Regierungen ein, die erst mit dem Sieg von Salvador Allende 1970 endete. Dies ist die politische Bühne von Esteban Trueba, der Politik auf die gleiche Weise betreibt, wie er seine Güter verwaltet: Wer im Weg ist, muss beseitigt werden (Esteban Trueba will Pedro Tercero töten, und Rosa stirbt bei einem fehlgeschlagenen Anschlag, der ihrem Vater, einem progressiven Kandidaten, galt). Viele Menschen mit revolutionären Ideen mussten sich bis zum Sieg Allendes verstecken, so wie Pedro Tercero auf dem Landgut.
1970 gewinnt Salvador Allende (der Onkel der Autorin) die Wahlen. Erneut war ein kommunistischer Kandidat für die Vereinigten Staaten unbequem. Er verlor auch die Unterstützung der Sozialistischen Partei, die an einen bewaffneten Aufstand glaubte. 1973 übernahm General Augusto Pinochet nach einem Putsch mit dem Segen der Vereinigten Staaten die Macht. Es begann eine Zeit harter Repressionen. Allein in Santiago de Chile wurden zwischen 1973 und 1983 5.400 Habeas-Corpus-Anträge im Namen politischer Gefangener gestellt, von denen nur zehn stattgegeben und nur vier Gefangene freigelassen wurden. Auf eine massive Repression in den ersten Monaten nach dem Militärputsch folgte ein zunehmend selektives und spezialisiertes Unterdrückungssystem. Ziel war es, die geheimen Strukturen der linken Parteien zu zerschlagen und jede Wiederherstellung von sozialen Organisationen, insbesondere der Gewerkschaften, zu verhindern.
Laut dem Nationalen Institut für Statistik von Chile war die Zahl der Verhaftungen durch Polizei und Ermittlungsdienste (ohne politische Verhaftungen durch Militär- und Sicherheitsorgane) zwischen 1970 und 1980 wie folgt:
- 1973: 524.551 Verhaftete
- 1974: 752.565 Verhaftete
- 1975: 893.998 Verhaftete
- 1976: 1.024.137 Verhaftete
- 1977: 1.112.667 Verhaftete
- 1978: 941.614 Verhaftete
- 1979: 865.009 Verhaftete
- 1980: 823.258 Verhaftete
- 1981: 780.922 Verhaftete
- Gesamt: 7.718.721 Verhaftete
Während des Pinochet-Regimes ließen die Sicherheitskräfte laut nationalen und internationalen Berichten rund 3.000 politische Gefangene verschwinden, folterten Zehntausende von Dissidenten und zwangen mehr als 30.000 Chilenen ins Exil. Weitere Informationen über die Unterdrückung unter Pinochet finden Sie im online verfügbaren Buch Die politische Unterdrückung in Chile (nicht für empfindliche Gemüter): http://www.derechos.org/nizkor/chile/libros/represion/index.html
Das Buch spiegelt sowohl den brutalen Charakter der sexuellen Folter als auch die Charakterisierung der Folterer wider, die meist aus der unteren sozialen Schicht stammten und besonders grausam gegenüber jenen waren, die ein mittleres bis hohes kulturelles Niveau hatten. Im Geisterhaus wird der Folterer durch Esteban García verkörpert, einen ehemaligen Mitarbeiter des Guts, der es besonders auf Alba, Esteban Truebas Enkelin, abgesehen hat. Auch das Exil spielt im Werk eine Rolle, da mehrere Mitglieder der Familie Trueba und verschiedene revolutionäre Charaktere gezwungen sind, das Land zu verlassen, so wie es auch Isabel Allende tun musste. Allendes Werk spiegelt die Höhepunkte der jüngsten chilenischen Geschichte wider und analysiert aus einer inneren Perspektive, wie diese Ereignisse die Bewohner des Landes beeinflussten und welche Ursachen sie hatten. Darüber hinaus zeigt es die soziale Organisation, insbesondere die Bedeutung des Gutsherrn, wo andere Formen der Macht fehlten oder parallel existierten.
Charakteranalyse in "Das Geisterhaus"
Einige Namen der Charaktere haben symbolische Bedeutungen. Dies ist der Fall bei Clara, was "die Hellsichtige" bedeutet. Die Namen der Frauen sollen etwas über ihren Charakter aussagen, während die Namen der Männer oft nur dazu dienen, die genealogische Linie zu verdeutlichen, wie bei der Pedro-García-Linie: Pedro García (der Älteste), Pedro Segundo García und Pedro Tercero García. Ein weiterer klarer Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Charakteren ist, dass die Mehrheit der männlichen Figuren verabscheuungswürdig ist und Gewalt gegen Frauen ausübt (wie Esteban Trueba und Esteban García), während die Frauen übernatürliche Gaben besitzen (wie Clara und Alba). Die Namen der weiblichen Protagonistinnen beziehen sich zudem auf die Farbe Weiß und symbolisieren Reinheit (Nívea, Clara, Alba, Blanca).
Clara Trueba
Clara ist die weibliche Hauptfigur. Sie ist hellsichtig, praktiziert Telekinese und kümmert sich selten um den Haushalt. Sie hält die Familie mit Liebe und ihren Vorhersagen zusammen. Sie ist die jüngste Tochter von Severo und Nívea del Valle, Ehefrau von Esteban Trueba und Mutter von Blanca, Jaime und Nicolás. Clara praktiziert Wahrsagerei, kommuniziert mit Geistern und bewegt Objekte (insbesondere einen dreibeinigen Tisch). Ihre spiritistischen Freunde, wie die Mora-Schwestern und der Dichter, sind ebenfalls wichtig. Clara unterstützt die Handlungen ihrer Kinder, auch wenn sie sich damit gegen ihren Mann Esteban stellt. Am Ende des Buches wird angedeutet, dass Clara die gesamte Zukunft ihrer Familie vorhergesehen und in ihren Notizbüchern festgehalten hatte. Sie bleibt eine geheimnisvolle Figur, ihrer Familie vielleicht etwas fern, aber sie zeigte ihnen immer ihre Liebe.
Esteban Trueba
Esteban Trueba ist die wichtigste männliche Figur im Roman und der einzige Charakter, der vom Anfang bis zum Epilog überlebt. In seiner Jugend warb er um die unerreichbare Rosa, die schöne Tochter von Severo und Nívea del Valle. Er arbeitete hart in den Minen, um ein Vermögen zu verdienen und sie heiraten zu können. Sein Leben nahm eine drastische Wendung, als Rosa versehentlich vergiftet wurde. Der Schmerz über den Verlust seiner Geliebten begleitete ihn sein ganzes Leben lang. Auf seinem Landgut vergewaltigte er alle heranwachsenden Bauernmädchen. Aus einer dieser Vergewaltigungen ging ein Sohn hervor, Esteban García, dessen Mutter Pancha García war. Dessen Enkel wird Jahre später Rache für die Demütigungen nehmen. Am Ende seines Lebens pflegt Esteban eine enge Beziehung zu seiner Enkelin Alba. Sein Zorn lässt nach, und er stirbt in den Armen seiner Enkelin, im Wissen, dass seine Frau ihm posthum verziehen hat.
Blanca Trueba
Blanca ist die erste Tochter von Clara und Esteban. Sie verbringt ihr Leben zwischen dem Haus in der Hauptstadt und dem Landgut "Las Tres Marías". Dort entwickelt sie schon als Kind eine große Liebe zu Pedro Tercero García, die andauert, bis sie gezwungen wird, ein Internat für Mädchen zu besuchen. Trotz des sozialen Status und der Überzeugungen ihrer Familie verliebt sie sich in Pedro Tercero, einen jungen Bauern. Sie täuscht sogar eine Krankheit vor, um das Internat zu verlassen und auf "Las Tres Marías" bleiben zu können. Wegen seiner Liebe zu ihr und weil er seine Ideen von sozialer Gleichheit unter den Arbeitern verbreitet, wird Pedro Tercero von Esteban Trueba vom Gut vertrieben.
Pedro Tercero García
Pedro Tercero García ist der Sohn des Vorarbeiters von "Las Tres Marías", Pedro Segundo. Sein Großvater trug denselben Namen. Pedro ist ein Arbeiter aus der Unterschicht, der für Esteban Trueba arbeitet. Schon in jungen Jahren verliebt er sich in Blanca Trueba, mit der er seine einzige Tochter, Alba, zeugt. Er wird von Estebans Gut vertrieben, weil er den anderen Arbeitern von Gleichheit und Rechten erzählt (die Metapher von den Hühnern, die gemeinsam den Fuchs besiegen). Später wird er zu einem der beliebtesten Sänger des Widerstands gegen die Diktatur (seine Figur basiert auf Víctor Jara).
Alba de Satigny
Alba ist die Tochter von Blanca und Pedro Tercero, obwohl sie viele Jahre lang glaubt, die Tochter des Grafen de Satigny zu sein. Schon vor ihrer Geburt wurde sie von ihrer Großmutter Clara als von den Sternen gesegnet bezeichnet. Deshalb musste sie nicht zur Schule gehen und wuchs im großen Haus an der Ecke auf, wo sie enge Beziehungen zu allen Familienmitgliedern pflegte. Alba liebte es, im Keller zu spielen und die Wände ihres Zimmers mit seltsamen Figuren und Monstern zu bemalen. Albas Haar war grün wie das von Rosa, aber sie erbte nicht deren Schönheit. Sie wird als junge Frau von kleiner Statur beschrieben, was auf die Autorin Isabel Allende selbst anspielt.
Nebenfiguren
- Severo und Nívea del Valle: Die Eltern von Rosa, Clara und weiteren Kindern. Severo beendet seine politische Karriere, nachdem seine Tochter Rosa bei einem auf ihn gerichteten Attentat vergiftet wird. Nívea wird später eine prominente Aktivistin für die Frauenbefreiung. Das Paar stirbt bei einem Autounfall, bei dem Nívea enthauptet wird.
- Nana: Die Dienerin und das Kindermädchen der Familien del Valle und Trueba. Sie stirbt während eines Erdbebens vor Schreck.
- Rosa die Schöne (del Valle): Die älteste Tochter von Severo und Nívea, bekannt für ihr leuchtend grünes Haar und ihre Schönheit. Sie stirbt, nachdem sie versehentlich ein Gift getrunken hat, das für ihren Vater bestimmt war. Esteban Trueba vergisst sie nie.
- Barrabás: Claras Hund, der zu enormer Größe heranwächst. Er wird am Tag von Claras Verlobung grundlos getötet. Mit den Worten "Barrabás kam auf dem Seeweg zur Familie" beginnt und endet der Roman.
- Jaime Trueba: Einer der Zwillingssöhne von Clara und Esteban. Er wird Arzt und widmet sein Leben der Hilfe für die Armen. Er stirbt während des Militärputsches nach schwerer Folter.
- Nicolás Trueba: Jaimes Zwillingsbruder. Im Gegensatz zu Jaime ist er kontaktfreudig, lebenslustig und spirituell. Er widmet sich esoterischen Lehren und dem Tanz.
- Amanda: Eine Geliebte beider Zwillingsbrüder. Sie wird während des Putsches getötet, nachdem sie gefoltert wurde, um den Aufenthaltsort ihres Bruders Miguel preiszugeben, was sie verweigert.
- Miguel: Albas Geliebter und ein glühender Revolutionär. Wegen seiner Verbindung zu Alba wird sie gefangen genommen und gefoltert.
- Férula Trueba: Esteban Truebas Schwester. Sie pflegt ihre kranke Mutter und entwickelt eine tiefe, fast mütterliche Beziehung zu Clara, was zu Konflikten mit Esteban führt.
- Pedro García und Pedro Segundo García: Weise Landbewohner auf "Las Tres Marías". Pedro García ist für seine Weisheit bekannt, während sein Sohn Pedro Segundo zum engsten Vertrauten von Esteban wird.
- Pancha García: Die erste Bäuerin, die von Esteban Trueba vergewaltigt wird. Sie ist die Großmutter von Esteban García.
- Esteban García: Der uneheliche Enkel von Esteban Trueba. Er hegt einen tiefen Hass gegen die Truebas und rächt sich brutal an Alba.
- Jean de Satigny: Ein geheimnisvoller französischer Graf, der Blanca heiratet, nachdem ihre Affäre mit Pedro Tercero aufgedeckt wurde. Er entpuppt sich als Schmuggler und veranstaltet Orgien, woraufhin Blanca ihn verlässt.
- Die drei Mora-Schwestern: Spiritistinnen und Freundinnen von Clara, die mit ihr Séancen abhalten.
- Tránsito Soto: Eine Prostituierte, die sich mit Esteban Trueba anfreundet. Sie baut eine erfolgreiche Kooperative auf und hilft Esteban später, seine Enkelin Alba zu finden.
Allende im Kontext der lateinamerikanischen Literatur
1962 erschien Die Stadt und die Hunde von Vargas Llosa, 1967 Hundert Jahre Einsamkeit von García Márquez. In dieser Zeit entstanden auch Romane wie Über Helden und Gräber von Sabato, Die Werft von Onetti, Das Reich von dieser Welt von Carpentier, Der Tod des Artemio Cruz von Carlos Fuentes und Rayuela von Cortázar. Für den spanischen Leser war dies eine literarische Sensation. Man sprach vom "Boom" des lateinamerikanischen Romans, einem der größten literarischen Ereignisse unserer Zeit. Die neuen hispanoamerikanischen Romanautoren führten die bereits begonnenen Innovationen fort und bereicherten den Roman um neue Mittel.
Merkmale des "Booms"
- Die Vorliebe für den "urbanen Roman" nimmt zu, während ländliche Umgebungen auf neue Weise behandelt werden.
- Die Integration von Fantasie und Realität festigt sich. Der "Magische Realismus" wird zu einem Hauptmerkmal.
- Im Bereich der Form gibt es eine große künstlerische Expansion und Experimentierfreude mit der Erzählstruktur.
- Die Sprache selbst wird zum Gegenstand des Experiments, mit überlappenden Stilen, syntaktischen Verzerrungen und einem starken Einsatz poetischer Sprache.
Grundlegend ist die Überzeugung vom Scheitern des traditionellen Realismus. Dieser Bruch bedeutet jedoch keine Abkehr von der Realität, sondern den Versuch, sie aus reicheren und ästhetisch gültigeren Blickwinkeln zu erfassen. Die Autoren verbanden ästhetische Anliegen mit sozialem und politischem Engagement.
"Die erste Pflicht eines revolutionären Schriftstellers ist es, als Schriftsteller revolutionär zu sein." - Julio Cortázar
Das bedeutet, mit den überkommenen Ausdrucksformen zu brechen und eine neue Technik vorzuschlagen, die den tiefgreifenden Veränderungen unserer Zeit entspricht.
Isabel Allende: Beitrag zur neuen Erzählung
Isabel Allendes erster großer Roman, Das Geisterhaus (1982), steht dem sogenannten "Magischen Realismus" nahe. Die Ereignisse, die zum Militärputsch führten, bildeten das erzählerische Material für dieses Werk, das sie zu einer der bedeutendsten hispanoamerikanischen Schriftstellerinnen machte. Sie wurde als brillante Nachfolgerin des "Booms" gefeiert und oft mit Gabriel García Márquez' Hundert Jahre Einsamkeit verglichen. Ihr Debüt wurde sofort ein Bestseller. Trotz gemischter Reaktionen wurde ihr Wert als "Geschichtenerzählerin" anerkannt. Diese Erzählfähigkeit, eine Mischung aus Fantasie und Realität, die leicht zu lesen ist, wurde in den 80er Jahren populär. Isabel Allende gilt somit als Vorläuferin des Post-Booms und als erste Frau, die in der modernen lateinamerikanischen Erzählung große Bekanntheit erlangte. Das Werk ist auch ein Plädoyer gegen die Schrecken der Pinochet-Militärdiktatur.
Magischer Realismus im "Geisterhaus"
Ursprung des Magischen Realismus
Der Magische Realismus ist ein Stilmittel, das darauf abzielt, das Unwirkliche oder Fremde als alltäglich und gewöhnlich darzustellen. Es ist ein literarischer Ausdruck, der weniger Emotionen wecken als vielmehr eine Haltung gegenüber der Realität vermitteln will. Der Begriff wurde ursprünglich vom deutschen Kunstkritiker Franz Roh geprägt, um eine Malerei zu beschreiben, die eine veränderte Realität zeigte, und später von lateinamerikanischen Schriftstellern übernommen. Als eines der ersten Werke dieser Tendenz gilt der Roman Doña Bárbara von Rómulo Gallegos.
Merkmale des Magischen Realismus
- Magische Elemente: Fantastische oder magische Elemente werden von den Charakteren als normal wahrgenommen und nicht erklärt.
- Sensorische Wahrnehmung: Die Realität wird stark über die Sinne wahrgenommen.
- Mythen und Legenden: Oft werden lateinamerikanische Mythen und Legenden integriert.
- Multiple Erzähler: Verschiedene Erzählperspektiven werden kombiniert, um die Komplexität zu erhöhen.
- Zyklische Zeit: Die Zeit wird nicht als linear, sondern als zyklisch wahrgenommen, in der sich die Vergangenheit wiederholt.
- Transformation des Alltäglichen: Gewöhnliche Ereignisse werden zu übernatürlichen oder fantastischen Erfahrungen.
- Tod als relatives Phänomen: Charaktere können sterben und wiederkehren.
- Verschmelzung von Realität und Fantasie: Alltägliche Fakten werden mit irrealen und fantastischen Elementen kombiniert.
- Amerikanische Schauplätze: Die Handlung spielt oft in einem Umfeld von Armut und sozialer Ausgrenzung, das als Nährboden für das Magische und Mythische dient.
Hauptursachen für den Durchbruch
- Krise der Religion: Die Suche nach neuen Wegen, die Welt zu verstehen.
- Suche nach dem Mythischen: Eine Abkehr von der introspektiven Psychologie hin zu älteren Erzählformen.
- Emotionale Rolle: Der Magische Realismus übernahm eine affektive Rolle, die zuvor die Religion innehatte.
- Entfremdung und Einsamkeit: Die Literatur thematisierte die paradoxe Zunahme von Isolation in einer immer dichter besiedelten Welt.
- Literarische Innovation: Nach den Experimenten der Avantgarde konnte der Magische Realismus die besten neuen Methoden für den Roman nutzen.
- Bedürfnis nach dem Wunderbaren: In einer oft unerträglichen Realität bot die Literatur einen Ausweg ins Fantastische.
Anwendung im "Geisterhaus"
Allendes Werk nutzt Elemente, die die Realität ins Fantastische erheben. Ihr erster Roman, Das Geisterhaus, vereint das Alltägliche mit dem Ungewöhnlichen durch Übertreibungen, surreale Zufälle und übernatürliche Ereignisse: ein Patriarch, der von einem Fluch überschattet wird, eine wunderliche Hellseherin, die Warnungen aus dem Jenseits erhält. Diese magischen Bilder sind Teil der Vision der Künstlerin von der seltsamen und schwer fassbaren Realität Amerikas. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Fantasy und Imagination. Fantasy-Bücher erzählen Geschichten ohne reale Grundlage. Imagination ist die Überhöhung der Realität. Wie die Autorin sagt, gibt es in ihren Büchern keine brutale Übertreibung, sondern eine einzigartige Nutzung von Vorahnungen und Zufällen, die im wirklichen Leben unwahrscheinlich erscheinen, aber dennoch vorkommen.
Der Roman ist durch die Technik der fiktiven Urheberschaft strukturiert: Die Geschichte wird in den Notizbüchern von Clara aufgezeichnet. Fast fünfzig Jahre später findet Alba, die letzte Frau der Linie, diese Notizbücher und rekonstruiert die Familiengeschichte. Diese vorgeschlagene tiefe Realität kollidiert mit einer der einzigartigsten Zutaten des Romans: dem Magischen Realismus. Diese spirituelle Welt ist die faszinierende und verrückte Welt der weiblichen Protagonistinnen, deren Namen symbolisch aufgeladen sind: Nívea, Rosa, Clara, Blanca und Alba. Die Welt der Männer – die Welt des Materiellen, des Machtkampfes, des Besitzes und der Kontrolle – kollidiert mit dieser spirituellen Sphäre. Aus der Vermischung dieser beiden Welten entsteht der wichtigste Bestandteil des Romans: die Suche nach dem Glück. Jeder Charakter sucht das Glück auf seine Weise – in der Spiritualität, in der Liebe, in der Macht oder in der Rache –, aber keiner findet es vollständig.
Die Erzählebene wechselt meisterhaft zwischen einem allwissenden Erzähler (dritte Person) und dem Monolog einer männlichen Figur: Esteban Trueba (erste Person). Diese Technik bereichert die Charakterisierung und vermittelt die Einsicht, dass man, um eine Person zu verstehen, in ihre Vergangenheit eintauchen muss. Am Ende des Buches sterben die vier Stützen der ersten Generation: die Nana, Pedro García, die Hellseherin Clara und schließlich Esteban Trueba.