Bürokratie: Theorien von Weber, Marx und Merton
Eingeordnet in Psychologie und Soziologie
Geschrieben am in
Deutsch mit einer Größe von 4,85 KB
Frühe Kritik und negative Wahrnehmung
Ursprünglich wurde der Begriff Bürokratie abwertend verwendet. Die Kritik an Beamten bezog sich auf eine als tyrannisch und eigennützig empfundene Herrschaft, die im Gegensatz zu den liberalen Überzeugungen stand, die sich in Europa verbreiteten. Im Alltagsverständnis wird Bürokratie oft fälschlicherweise als eine Welt der Routine, Ineffizienz und des Papierkrams missverstanden, was den Begriff in den Sozialwissenschaften irreführend macht.
Klassische Perspektiven auf Bürokratie
Die liberale Sichtweise
Aus liberaler Sicht stellt die Bürokratie eine Bedrohung dar, da sie den Apparat des Staates bildet. Der Staat sollte lediglich Standards aufrechterhalten und regulieren, um das Funktionieren der Gesellschaft zu gewährleisten, sich aber nicht direkt beteiligen. Die Bürokratie sollte daher begrenzt oder sogar abgeschafft werden.
Die marxistische Sichtweise
Auch aus marxistischer Sicht gab es eine negative Wahrnehmung. Hier wurde betont, dass Bürokratie mit Macht verbunden ist und Ressourcen sowie Handlungsmittel bereitstellt. Die zentrale Frage war, inwieweit der bürokratische Apparat zur Bildung von Eliten beitrug, die diese Ressourcen für ihre eigenen Interessen nutzten.
Max Webers Wendepunkt in der Bürokratietheorie
Obwohl diese beiden Sichtweisen bis heute nachwirken, markiert das Werk von Max Weber (insbesondere „Wirtschaft und Gesellschaft“) einen Wendepunkt. Es ermöglichte eine neue, wertfreie Analyse der Bürokratie. Weber beschreibt verschiedene historisch aufgetretene Herrschaftsformen (traditionale, charismatische und legal-rationale Herrschaft) und analysiert die Unterschiede zwischen den Organisationsformen im Feudalismus und im modernen Staat.
Für Weber ist die Bürokratie eine spezifische Organisationsform, die der moderne Staat zur Machtausübung nutzt – ein Produkt eines systematischen Rationalisierungsprozesses. Um die Kontrolle über ein Territorium zu erlangen, benötigte der moderne Staat ein stehendes Heer und eine immer komplexere Finanz- und Verwaltungsbürokratie. Webers Definition unterscheidet sich grundlegend von der Verwaltung in absoluten Monarchien:
- Unpersönliche Regeln: Eine Bürokratie wird durch sachliche und unpersönliche Regeln gesteuert, nicht durch die Willkür eines Herrschers.
- Professionalität: Der Zugang zu Ämtern basiert auf Qualifikation und Professionalität, nicht auf Abstammung oder Erbschaft.
- Amtshierarchie: Die Autorität ist an die Position gebunden, nicht an die Person, die sie innehat.
Aus Webers Werk ergeben sich zwei wichtige Erkenntnisse:
- Der Begriff der Bürokratie bezieht sich nicht mehr nur auf einen staatlichen Herrschaftsapparat, sondern auf eine an Rechtsstaatlichkeit gebundene Organisationsform.
- Das Konzept ist nicht auf den Staat beschränkt, sondern kann auf alle großen Organisationen in der modernen Gesellschaft angewendet werden.
Weiterentwicklungen nach Weber
Nach Weber entwickelte sich die Untersuchung der Bürokratie in zwei Hauptrichtungen: die Politikwissenschaft und die Soziologie. Die Politikwissenschaft konzentrierte sich auf die Beziehung zwischen Bürokratie, Demokratie und Eliten. Die Soziologie baute auf Webers Arbeit auf, insbesondere durch die Analyse von Robert Merton.
Robert Merton: Dysfunktionen der Bürokratie
Robert Merton führte die Konzepte der manifesten (offensichtlichen) und latenten (verborgenen) Funktionen ein. Während die manifeste Funktion der Bürokratie darin besteht, durch Regeln berechenbar und effizient zu sein, kann dies eine latente Dysfunktion erzeugen: Ineffizienz. Wenn Bürokraten starr an Regeln festhalten, kann dies zu einem Verhalten führen, das sich gegen die ursprünglichen Ziele der Organisation richtet und sie ineffizient macht.
Klassische Fallstudien
Zwei klassische Studien illustrieren diese Weiterentwicklungen:
Phillip Selznick: Organisation und Umwelt
Selznick untersuchte in seiner Studie „TVA and the Grass Roots“, wie sich eine Organisation an ihre Umwelt anpasst. Er stellte fest, dass der Versuch, flexibler zu werden, paradoxerweise zu mehr Starrheit führen kann. Durch den Prozess der Kooptation (Einbindung externer Kritiker in die Organisation) kann die Organisation ihre ursprünglichen Ziele aus den Augen verlieren.
Alvin Gouldner: Informelle Strukturen
Alvin Gouldner untersuchte eine Gipsfabrik und fand heraus, dass neben der formalen Hierarchie auch informelle Gruppen existieren. Diese Gruppen üben einen Einfluss aus, der nicht ihrer offiziellen Position entspricht, und prägen die Funktionsweise der Organisation maßgeblich mit.