Grundlagen der Physiotherapie: ICF, Behandlungsprozess & Methoden
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1. Grundlegende Definitionen im Kontext der ICF
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) definiert zentrale Begriffe:
- Beeinträchtigung (Impairment): Ein Problem in den Körperfunktionen (physiologische Funktionen von Körpersystemen) oder Körperstrukturen (anatomische Teile des Körpers wie Organe oder Gliedmaßen).
- Aktivitätseinschränkung (Activity Limitation): Schwierigkeiten, die eine Person bei der Durchführung von Aktivitäten oder Handlungen erleben kann.
- Partizipationseinschränkung (Participation Restriction): Probleme, die eine Person bei der Beteiligung an Lebenssituationen erfahren kann.
2. Komponenten der Gesundheitsfunktion nach ICF
Die ICF gliedert die Gesundheitsfunktion in verschiedene Ebenen:
Körperebene
- Körperfunktionen: Physiologische Funktionen des Körpers (einschließlich mentaler Funktionen), z.B. mentale Funktionen, Funktionen des Herz-Kreislauf-Systems, sensorische und neuromuskuläre Funktionen im Zusammenhang mit Bewegung.
- Körperstrukturen: Anatomische Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen und deren Komponenten.
Individuelle Ebene
- Aktivitäten: Die Durchführung einer Aufgabe oder Handlung durch eine Person (z.B. Waschen, Bewegen eines Objekts mit der Hand).
- Partizipation: Der Akt der Interaktion und Beteiligung einer Person an Lebenssituationen (z.B. Kartenspielen).
3. Das ICF-Modell in der Physiotherapie: Eine kurze Erläuterung
Die ICF ist die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit.
Modell der Leistung in der Physiotherapie
Das Modell beschreibt den Zusammenhang zwischen einer Schädigung (z.B. Verlust der Beweglichkeit), die zu Aktivitätseinschränkungen (z.B. Schwierigkeiten beim Gehen) und schließlich zu Partizipationseinschränkungen (z.B. nicht mehr am Sport teilnehmen können) führt.
Physiotherapeutisches Beispiel
Eine Fraktur (Trauma) führt zu einem Verlust der Beweglichkeit und Schmerzen, was die Funktion bei bestimmten Aktivitäten beeinträchtigt. Die Aufgabe des Physiotherapeuten ist es, diese Beeinträchtigungen zu reduzieren und die funktionellen Fähigkeiten zur Durchführung von Aktivitäten wiederherzustellen.
4. Definition der Physiotherapie als Disziplin und Beruf
Definition der Physiotherapie als Disziplin
„Die Kunst und Wissenschaft der physikalischen Behandlung, d.h. die Gesamtheit der Techniken, die durch Anwendung physikalischer Mittel (Heilgymnastik, Wärme, Kälte, Licht, Hydrotherapie, manuelle und elektrische Verfahren) zur Heilung, Prävention, Wiederherstellung und Anpassung von Menschen eingesetzt werden, die von somatischen Dysfunktionen betroffen sind oder ein angemessenes Niveau des Gesundheitsschutzes aufrechterhalten wollen.“ (WCPT, 1967)
Definition der Physiotherapie als Beruf
„Physiotherapie ist die Dienstleistung, die von Physiotherapeuten oder unter deren Leitung und Aufsicht erbracht wird und die Beurteilung, Diagnose, physiotherapeutische Behandlung, Planung, Intervention und Neubewertung umfasst.“ (WCPT, 1999)
5. Physikalische Agentien: Definition, Effekte und Klassifizierung
Definition physikalischer Agentien
Physikalische Agentien sind Elemente, die physikalische Energie auf den Körper übertragen.
Effekte
Der therapeutische Einsatz physikalischer Agentien versorgt den Körper mit spezifischer physikalischer Energie, die mechanisch, thermisch oder elektromagnetisch sein kann. Diese Energie wird vom Körper absorbiert und erzeugt einen primären Effekt (z.B. thermisch, kinetisch, chemisch). Dieser primäre Effekt führt zu sekundären biologischen Veränderungen, die wir therapeutisch nutzen möchten.
Klassifizierung nach Kategorie
- Mechanische Agentien: Manuelle Therapie (Mobilisation, Traktion, Kompression), Massagetherapie, Vibrationstherapie (Sismotherapie), Ultraschall.
- Elektromagnetische Agentien: Elektrische Ströme (TENS), Tiefenwärme (Hochfrequenz und Kurzwellen), Infrarot (IR), sichtbares Licht, Ultraviolett (UV), Laserstrahlung (Laser).
- Thermische Agentien: Oberflächliche Wärme (z.B. Salz- oder Heißsandpackungen), Kälte (z.B. Eis).
- Komplexe Agentien: Hydrotherapie (z.B. Whirlpool) mit thermo-mechanischem Doppeleffekt.
6. Anwendungsbereiche der Physiotherapie
Schwerpunkte der Physiotherapie (WCPT)
- Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens des Einzelnen und der Gesellschaft im Allgemeinen.
- Prävention von Beeinträchtigungen, Aktivitätseinschränkungen und Partizipationsproblemen bei Personen, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes und/oder kontextueller Faktoren gefährdet sind.
- Unterstützung bei:
- Wiederherstellung der Integrität und Funktion von Systemen.
- Reduzierung von Behinderung (Kompensation).
- Steigerung der Lebensqualität (soziale Teilhabe) für Einzelpersonen und Gruppen, die von Behinderungen betroffen sind.
Heilung und Rehabilitation
Die Unterstützung umfasst den Prozess der Heilung/Wiederherstellung (oft mit vollständiger Genesung verbunden) und der Rehabilitation. Rehabilitation zielt darauf ab, die maximale funktionelle, soziale und emotionale Leistungsfähigkeit des Individuums wiederherzustellen, d.h. alle Aspekte durch die Beteiligung vieler Fachleute.
Die Physiotherapie richtet ihre Tätigkeit auf gesundheitliche Bedingungen, die zu Störungen, Beeinträchtigungen oder stabilen Einschränkungen führen können. Sie wird individuell oder altersgruppenspezifisch durchgeführt.
7. Rollen und Aufgaben von Physiotherapeuten
Physiotherapeuten können verschiedene Funktionen ausüben:
- Gesundheitswesen: Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Gesundheitsversorgung, primär der Behandlung von Patienten. Dies ist die häufigste Rolle.
- Lehre: Physiotherapeuten lehren Theorie und Praxis in grundständigen Studiengängen (Fachhochschulen) und Diplomstudiengängen.
- Forschung: Immer mehr Physiotherapeuten widmen einen Teil ihrer Zeit der Forschung. Dies ist ein Querschnittsthema, das die Verbesserung der physiotherapeutischen Arbeit ermöglicht.
- Management: Leitung und Aufsicht. Sie sind oft Leiter von Management-Dienstleistungen und koordinieren Ressourcen, Patienten und Fachpersonal.
8. Der physiotherapeutische Behandlungsprozess: Eine Übersicht
Der Behandlungsprozess in der Physiotherapie umfasst folgende Elemente:
Befundaufnahme
- Inhalt: Sammlung von Informationen (Untersuchung), bei der der Patient aktiv teilnimmt (Anamnese & körperliche Untersuchung); klinische Beurteilung der Untersuchungsergebnisse (Evaluation).
- Ziele: Identifizierung und Definition der Patientenprobleme; Beurteilung von Faktoren, die die Intervention beeinflussen; Aufbau einer effektiven Kommunikation mit dem Patienten; Schaffung einer Informationsbasis.
Physiotherapeutische Diagnose
Die Identifizierung bestehender oder potenzieller Beeinträchtigungen und/oder Aktivitätseinschränkungen zur Ableitung von Behandlungsleitlinien. Sie ermöglicht spezifische Behandlungen. Es ist ein definierender Prozess, da er es ermöglicht, die relevanten Aktivitäten für den Patienten, die Beeinträchtigungen, die seine Aktivitäten beeinflussen, und die primären Beeinträchtigungen oder Aktivitäten, die diese verursachen oder aufrechterhalten, zu definieren.
Planung
Erläuterung des Patientenmanagements: Konsultation oder Überweisung an andere Fachleute; Beginn eines Interventionsprogramms.
Interventionsplanung
- Festlegung von Zielen (erwartete Ergebnisse).
- Auswahl der Interventionen.
- Definition von Dauer und Häufigkeit.
- Festlegung von Entlassungskriterien.
Intervention
Die Anwendung der im Planungsprozess festgelegten Behandlungstechniken mit dem Patienten zur Beseitigung von Beeinträchtigungen und individuellen Aktivitätseinschränkungen.
Re-Evaluation
- Feststellung, ob sich der Patient durch die vorgeschlagene Behandlung verbessert hat.
- Abschließende Evaluation zur Bewertung der Ergebnisse und Erstellung eines Berichts.
9. Befundaufnahme: Komponenten und Abgrenzung zur medizinischen Diagnose
Anamnese
Prozess der Sammlung von Informationen über den aktuellen Gesundheitszustand des Patienten und die relevante Vorgeschichte.
- Daten: Soziodemografische Informationen, Umfeld, allgemeiner Gesundheitszustand, medizinische und chirurgische Vorgeschichte, aktueller Gesundheitszustand, Medikation und Berichte.
- Quellen: Patient, Familie, Bezugspersonen, andere Teammitglieder, Berichte oder Patientenakten.
Körperliche Untersuchung
Informationsgewinnung durch Tests und Beobachtungen zur Überprüfung und Ergänzung des klinischen Profils aus der Anamnese. Es ist ein entscheidender Prozess der gesamten Befundaufnahme.
- Quelle: Patient.
- Tests: Mobilität, Kraft, Sensibilität, Aktivitäten.
Unterschiede zur medizinischen Bewertung
Der Physiotherapeut bewertet die Funktionsfähigkeit und deren Veränderungen (Beeinträchtigungen und Aktivitätseinschränkungen), während der Arzt medizinische Erkrankungen, Krankheiten und Zustände diagnostiziert.
10. Konzept der physiotherapeutischen Diagnose
Die physiotherapeutische Diagnose ist die Identifizierung bestehender oder potenzieller Beeinträchtigungen und/oder Aktivitätseinschränkungen zur Ableitung von Behandlungsleitlinien. Sie ermöglicht spezifische Behandlungen. Es ist ein definierender Prozess, da er es ermöglicht, die relevanten Aktivitäten für den Patienten, die Beeinträchtigungen, die seine Aktivitäten beeinflussen, und die primären Beeinträchtigungen oder Aktivitäten, die diese verursachen oder aufrechterhalten, zu definieren.
Unterschiede zur medizinischen Diagnose
Die medizinische Diagnose identifiziert Störungen, Krankheiten und Pathologien, während die physiotherapeutische Diagnose sich auf Beeinträchtigungen und Aktivitätseinschränkungen konzentriert.
11. Ziele der physiotherapeutischen Intervention und ihre Typen
Ziele sind die angestrebten Ergebnisse, die durch die Anwendung einer bestimmten Behandlung erreicht werden sollen. Dazu ist die Einbeziehung des Patienten in die Behandlung (Therapietreue) erforderlich.
Typen von Zielen
- Nach Art der Ergebnisse:
- Veränderungen in den Beeinträchtigungen und Aktivitätseinschränkungen.
- Verringerung oder Vermeidung von Risikofaktoren.
- Verbesserte Lebensqualität.
- Optimierung der Zufriedenheit.
- Nach Zeitrahmen:
- Kurzfristig
- Mittelfristig
- Langfristig
12. Arten physiotherapeutischer Interventionen
- Koordination und Dokumentation: Prozess- und Registereintrag.
- Information und Aufklärung: Über gesundheitliche Probleme; Behandlungsplan; therapeutische Übungen für zu Hause; Tipps zu Risikofaktoren; Beratung zum allgemeinen Gesundheitszustand.
- Therapeutische Verfahren: Auswahl geeigneter Behandlungstechniken.
- Kriterien für die Auswahl: Wirksamkeit (Schlüsselparameter) und Kosten. Ziel ist eine hohe Kosteneffizienz.
13. Phasen eines klinischen Interviews
Sondierungsphase
Versuch zu verstehen, was das Problem ist. Verwendete Techniken zur Informationsgewinnung:
- Aufbau eines Vertrauensverhältnisses.
- Eingehende Untersuchung des Beratungsgegenstandes.
- Physiotherapeutische Diagnose: Anamnese; Exploration.
Entscheidende Phase
Versuch, die Informationen zu einer Problemlösung zu führen:
- Verhandlung.
- Zusammenfassung und Überprüfung.
14. Wichtige Faktoren im klinischen Interview
Wesentliche Aufgaben
Engagement, Empathie, Aufklärung und Erwartungsmanagement. Diese sind miteinander verbunden und schwer voneinander zu trennen.
Funktionale Faktoren für ein erfolgreiches Interview
- Kontext und Umfeld: Berücksichtigung des Berufsstandes, Proxemik, Körpersprache und paralinguistische Komponenten.
- Zuhören: Ziel ist es, die Erzählung des Patienten zu fördern.
- Verständnis: Erfassen und Erkennen dessen, was der Patient fühlt und ausdrückt.
- Strategie: Gemeinsame Entwicklung eines Aktionsplans mit dem Patienten.
- Zusammenfassung: Eine kurze Übersicht über die besprochenen Punkte und die weiteren Schritte.
17. Definition von Validität und Reliabilität mit Beispielen
Reliabilität (Zuverlässigkeit)
Reliabilität = Reproduzierbarkeit: Grad der Stabilität und Reproduzierbarkeit von Messungen (z.B. Mobilität, Kraft) bei wiederholter Anwendung unter gleichen Bedingungen.
Validität (Gültigkeit)
Validität: Das Ausmaß, in dem ein Messinstrument tatsächlich das misst, was es messen soll.
Beispiel für eine Situation mit Reliabilität und Validität
Ein geeichtes Thermometer zeigt bei wiederholter Messung der Körpertemperatur einer Person konsistent 37,0 °C an, wenn die Person tatsächlich fieberfrei ist. Das Thermometer ist sowohl zuverlässig (zeigt immer dasselbe an) als auch gültig (misst die tatsächliche Temperatur korrekt).
Beispiel für eine Situation ohne Reliabilität und Validität
Eine Waage zeigt bei dreimaligem Wiegen einer 60 kg schweren Person nacheinander 20 kg, dann 45 kg und schließlich 10 kg an. Die Waage ist weder zuverlässig (die Messungen sind nicht reproduzierbar) noch gültig (sie misst das tatsächliche Gewicht nicht korrekt).