Holismus: Definition, Geschichte und Anwendungsbereiche

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Was ist Holismus? Definition und Konzept

Holismus (griechisch holos „ganz“), auch Ganzheitslehre, ist die Vorstellung, dass natürliche (gesellschaftliche, wirtschaftliche, physikalische, chemische, biologische, geistige, linguistische usw.) Systeme und ihre Eigenschaften als Ganzes und nicht als Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten sind.

Der Holismus vertritt die Auffassung, dass ein System als Ganzes funktioniert und dies nicht vollständig aus dem Zusammenwirken aller seiner Einzelteile verstanden werden kann. Die entgegengesetzte Position hierzu ist der Reduktionismus beziehungsweise Atomismus, der versucht, das zusammengesetzte System als Ergebnis der Elemente und ihrer Eigenschaften zu beschreiben. Hauptargument des Holismus gegen den Reduktionismus ist oftmals eine nicht vollständige Erklärbarkeit des Ganzen aus den Eigenschaften seiner Teile.

Herkunft des Begriffs

Der Begriff Holismus geht auf das griechische Wort hólos „ganz“ zurück. Geprägt wurde er von dem Südafrikaner Jan Christiaan Smuts (1870-1950) in seinem 1926 erschienenen Buch Holism and Evolution.

Geschichte des Holismus

Obgleich reduktionistische Denkansätze aufgrund einer vergleichsweise einfachen Methodik, des Kausalitätsprinzips und allgemeingültiger Schlussfolgerungen in den modernen Wissenschaften weitaus häufiger vertreten sind, hat das ganzheitlich-holistische Denken vermutlich ältere Wurzeln. Dies belegen Untersuchungen über das mythische Denken naturangepasster Kulturen, das geradezu „zwingend“ auf die Harmonie zwischen den Objekten und ihre Einordnung im „Großen Ganzen“ ausgerichtet war. Auch alle Religionen bieten holistische Welterklärungen.

In der griechischen Antike wurde die Vorstellung von der Welt als ein in sich Ganzes erstmals philosophisch begründet. Die Wurzeln liegen in der ionischen Naturphilosophie, kommen aber erst bei den Nachsokratikern Platon und Aristoteles („Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“) zur Vollendung.

In der Philosophie der Renaissance und des Humanismus wurden die antiken Ideen erneut belebt und mit christlichen und naturmagischen Vorstellungen zur Idee der „Organischen Einheit der Natur“ verbunden. In der darauf folgenden Philosophie der Neuzeit bildete sich der Gegensatz zwischen Reduktionismus und Holismus heraus. Holistische Grundauffassungen finden sich vor allem in der Monadenlehre von Gottfried Wilhelm Leibniz, den Naturphilosophien von Friedrich Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, aber auch bei Schriftstellern wie Novalis oder Friedrich Hölderlin.

Nach der starken Differenzierung der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen verlor der Holismus in der Wissenschaft zeitweise an Bedeutung, bis der „fehlende Überblick“ erneut holistische Denkweisen beförderte, die zu neuen Fächern führten. Drei der wenigen modernen Disziplinen, die mehr oder weniger auf holistischen Ansätzen basieren, sind die Systemwissenschaften (hier insbesondere die Systemtheorie, die auf Ludwig von Bertalanffy zurückgeht), die Ökologie und die Ethnologie.

Als einer der Hauptvertreter eines ganzheitlich-systemischen Ansatzes, der fernöstliche Weisheit, Physik und Ökologie verbindet, gilt Fritjof Capra und eines der populärsten holistischen Denkmodelle ist die Gaia-Hypothese, die das System Erde mit einem Organismus gleichsetzt.

Eine holistische Interpretation der Quantenphysik findet man bei David Bohm.

Wichtige Holismus-Konzepte

Smuts’ Holismustheorie

Jan Christiaan Smuts baute seine Theorie des Holismus auf der Grundlage des Gedankens einer schöpferischen Evolution auf. Hierzu versuchte er eine Synthese von Wissenschaft und Philosophie, indem er sagte, dass zur Erklärung der Evolution beides nötig ist, zum einen die Strukturen (Gegenstand der Wissenschaften), und zum anderen die Prinzipien (Gegenstand der Philosophie). Um die Natur zu verstehen, muss ein Teil von ihr genommen werden, der beides beinhaltet. Materie und Leben bestehen beide aus Teilstrukturen, deren Anordnung zu natürlichen Ganzen führt. Diese Teilstrukturen sind ebenso jeweils ein Ganzes. Ob es sich um ein Atom, ein Molekül, eine chemische Verbindung, Pflanzen, Tiere oder Staaten handelt, alles ist jeweils ein Ganzes. Konglomerate dieser Ganzheiten bilden wieder ein neues Ganzes mit neuen Funktionen und Fähigkeiten. Diese Ganzheit bzw. dieser Holismus ist die treibende Kraft der Evolution, ihre vera causa, wie Smuts sagt, welche Einfluss auf die Mechanismen der Evolution, Variation und Selektion, ausübt. Die verschiedenen Formen der Variation wurden nach Smuts durch individuelle Zweckmäßigkeit, Gebrauch (Nutzung von Körperteilen auf neue Art) und durch physikalische Umweltbedingungen erklärt. Jede Variation ist keine isolierte Variation eines Teiles des Organismus, sondern besteht immer aus mehreren Variationen, die den Organismus als Ganzen verändern, so Smuts. „Die Variation A umfasst zwangsläufig eine Anzahl gleichgerichteter Anpassungen, die von A abhängig sind und nicht unabhängig verursacht oder erhalten werden. (…) Hier trifft das Ganze die ‚Auswahl‘ durch die Anwendung seiner zentralen Aufsicht.“ Bei Smuts ist der Holismus nicht nur ein Erklärungsprinzip, sondern gleichsam selbst tätig, als schöpferische Ursache der Evolution.

Meyer-Abichs Holismuskonzept

Adolf Meyer-Abich hat eine umfassende Holismuskonzeption in ontologischer wie epistemologischer Perspektive entwickelt. Der Holismusbegriff ist bei Meyer-Abich ein relativer und korrelativer Begriff. Für Haldane und Meyer-Abich sind die biologischen Gesetze nicht aus den physikalischen Gesetzen ableitbar, da die physikalischen Gesetze Vereinfachungen der biologischen Gesetze sind, und damit die biologischen universaler und allgemeingültiger sind als die physikalischen. Die Biologie enthält demnach die Theorien der Physik und Chemie, wobei, so Meyer-Abich, die physikalischen Theorien durch Simplifikation aus den biologischen ableitbar sind, nicht jedoch umgekehrt.

Anwendungsbereiche und Arten des Holismus

Holismus in Erziehung und Pädagogik

Formale Bildung orientiert sich in der Regel an reduktionistischen Fächern und Methoden. Insbesondere durch die Assessments der OECD (z. B. PISA) wurde deutlich, dass aufgrund einer mittlerweile überholten Herangehensweise das Leseverstehen sinkt und resultierend daraus, ein Begreifen der Umwelten bzw. eine Problemlösekompetenz oft nur in geringem Umfang möglich sind. Unter dem Einfluss von Neurobiologie, Kognitionswissenschaft und Evolutionärer Erkenntnistheorie gewinnt nun eine holistische Herangehensweise, wie sie bspw. John Dewey anregte, zunehmend an Bedeutung.

Holismus im strukturalistischen Sinn

In einem strukturalistischen Sinn wird Holismus auch als „Umstand“ definiert, dass die Elemente eines Gegenstandsbereiches nur durch ihre wechselseitigen Beziehungen das sind, was sie sind. Beispiel: Ein Medikament gegen ein bestimmtes Leiden enthalte einen Wirkstoff, dessen Wirkung Linderung verspricht. Dieses ist der relevante Gegenstandsbereich einer gezielten Behandlung. Es besteht eine wechselseitige Beziehung zwischen Leidenslinderung und der Wirkung des Medikamentes. Im holistischen Sinne klammert dieser Umstand alle Wirkungen des Medikamentes aus, die nicht in Beziehung zur Leidenslinderung stehen. Jene ausgeklammerten Wirkungen werden für sich genommen landläufig als Nebenwirkungen bezeichnet, obwohl es sich im eigentlichen, holistischen Sinne ebenfalls um Wirkungen handelt. Die Wirkung wird zur Nebenwirkung, wenn sie nicht Bestandteil des Gegenstandsbereiches ist. Enthält das Medikament trotz lindernder Wirkung keinen Wirkstoff, besteht dennoch eine wechselseitige Beziehung. Somit ist der analytisch kausale Zusammenhang zwischen den Elementen eines Gegenstandsbereiches für den Holismus keine Bedingung.

Semantischer Holismus

Der semantische Holismus vertritt die Auffassung, dass die Bedeutung eines Satzes nur durch den Gesamtzusammenhang in der jeweiligen Sprache ermittelt werden kann. Er wurde u. a. von Quine und Davidson vertreten.

Erkenntnistheoretischer Holismus

Nach dem erkenntnistheoretischen Holismus (auch: epistemischer Holismus) kann eine Hypothese nicht isoliert, sondern nur im Kontext einer umfassenden Theorie überprüft (falsifiziert) werden (Siehe auch: Duhem-Quine-These). Ein Vertreter war Norwood Russell Hanson.

Der erkenntnistheoretische Holismus hängt mit dem semantischen Holismus zusammen.

Methodologischer Holismus

Als methodologischen Holismus (oder auch Methodologischer Kollektivismus) bezeichnet man die holistische Position, gemäß der Ganzheiten als soziale Ganzheiten untersucht werden sollen und nicht auf individuelle Besonderheiten, z. B. auf Handlungen von Einzelpersonen, reduziert werden (Nagel, Mandelbaum, Goldstein) sollen.

Der methodologische Holismus ist eine Konsequenz des soziologischen Holismus, aber nicht umgekehrt.

Soziologischer Holismus

Als soziologischen Holismus bezeichnet man die holistische Position, gemäß der historische und gesellschaftliche Phänomene nicht auf die Beschreibung und Erklärung des Verhaltens von Individuen reduziert werden können.

So gibt es Émile Durkheim zufolge irreduzible, soziale Ganzheiten mit besonderen Eigenschaften.

Der soziologische Holismus hat den methodologischen Holismus zur Folge, aber nicht umgekehrt.

Holismus in der Ökonomie

In der Ökonomie ist ein Unternehmen holistisch, wenn es – im Gegensatz zu tayloristischen Unternehmen – die positiven Skaleneffekte der Arbeitsteilung nicht nutzt.

Holismus in der Medizin

Hauptartikel: Ganzheitliche Medizin

Beispiele für Holismus

  • Ein Kernsatz des Holismus lautet: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“
  • Der Holismus postuliert den Primat des Ganzen über seine Teile.
  • Als bedeutende Vertreter des Holismus in der Biologie bzw. Anthropologie gelten: John Scott Haldane (The philosophical Basis of Biology, London 1931) und Teilhard de Chardin (Der Mensch im Kosmos, 1955).

Verwandte Begriffe

Gegenbegriffe (Antonyme)

Oberbegriffe (Hyperonyme)

Unterbegriffe (Hyponyme)

Wortbildungen

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