Iusnaturalismus, Gerechtigkeit und die Grundwerte des Rechts

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Iusnaturalismus: Die Existenz einer höheren Ordnung

Der Iusnaturalismus verteidigt die Existenz einer höheren, objektiven Ordnung, die zwei Merkmale aufweist: Sie ist permanent und universell. In diesem Kontext können Menschen die Kriterien entdecken, die ihr Verhalten leiten und die auch das Gesetz leiten sollen.

Wir können unterscheiden zwischen:

  • Weitem Naturgesetz: Deckt sich im Großen und Ganzen mit dem rechtlichen Objektivismus und bildet die Grundlage für Theorien, die Kriterien außerhalb der positiven Rechtsordnung suchen.
  • Strengem Naturgesetz: Bezieht sich nur auf diejenigen, die die aktuellen Leitkriterien eines höheren Gesetzes verstehen.

Wenn der Gesetzgeber verbindliche Gesetzesregeln schaffen will, müssen diese den Inhalt dieses Naturgesetzes berücksichtigen. Die Positionen des natürlichen Sittengesetzes verteidigen die Existenz eines dualen Rechtssystems: Naturrecht (ideales System) und positives Recht (das sich am Naturrecht orientieren sollte).

Wer die Auffassung vertritt, dass positives Recht nur in dem Maße verbindlich ist, wie es die Kriterien des Naturgesetzes widerspiegelt, und dass es ohne diese Kriterien kein juristisches System gibt, verteidigt eigentlich nur die Existenz eines einzigen Gesetzes: des natürlichen Gesetzes. Allen Positionen gemeinsam ist der Glaube an das Naturrecht als eine normative Ordnung, die über dem positiven Recht steht.

Auffassungen des Begriffs „Natur“ nach Pérez Luno

Professor Pérez Luno gruppiert die verschiedenen Auffassungen des Begriffs „natürlich“ oder „Natur“ unter drei Überschriften:

  1. Die Natur als göttliche Schöpfung verstanden, wobei das natürliche Gesetz eine Manifestation des Willens Gottes ist.
  2. Die Natur als Kosmos oder Gesetze, die die physische Welt regieren.
  3. Natur und Vernunft.

Gerechtigkeit als grundlegender Rechtswert

Gerechtigkeit wird oft als der ultimative Rechtswert angesehen. Einige Autoren sehen sie nicht als Wert, sondern als eine der Grundfunktionen des Gesetzes. Wir sind jedoch der Meinung, dass dies ein grundlegender Wert ist, von dem tatsächlich alle übrigen Werte des Rechts abgeleitet werden.

Zusammenhang zwischen Recht und Gerechtigkeit: Lehrmeinungen

Zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Recht und Gerechtigkeit gibt es unterschiedliche Lehrmeinungen:

  1. Naturrechtliche Position

    Gerechtigkeit und Recht stehen in einem wesentlichen Zusammenhang. Man kann nicht das eine ohne das andere denken. Wahres Recht wird mit dem Inhalt der Gerechtigkeit identifiziert. Einige Autoren argumentieren, dass ungerechte Gesetze entweder gar keine Gesetze sind (St. Augustinus) oder korrupte Gesetze (St. Thomas), aber keinesfalls echtes Recht darstellen.

  2. Positivistische Position

    Die Idee der Gerechtigkeit ist nicht untrennbar mit dem Gesetz verbunden, sondern gehört zu moralischen Urteilen. Wenn eine Vorschrift als gerecht oder ungerecht bezeichnet wird, handelt es sich um eine moralische und subjektive Bewertung. Eine Regel ist legal, weil sie bestimmte formale Anforderungen erfüllt, unabhängig davon, ob ihr Inhalt gerecht ist oder nicht. Für einige Positivisten wird das, was richtig und falsch ist, durch das Gesetz als solches bestimmt. Hieraus kann man ableiten, dass es auch eine Identifikation zwischen Recht und Gerechtigkeit gibt, wobei in diesem Fall das erstere (das Gesetz) das zweite (die Gerechtigkeit) bestimmt.

  3. Eklektische Position

    Es wird argumentiert, dass Gerechtigkeit nicht ein Element des Wesens des Rechts ist, sondern ein Wert oder ideelles Prinzip, das das Recht anstreben sollte. Da kein System die Anforderungen des Ideals der Gerechtigkeit vollständig erfüllen kann, kann niemand eine radikal gerechte Rechtsordnung beanspruchen. Diese These versucht, die beiden vorhergehenden Positionen zu vereinen.

Wie bei anderen Werten ist es schwierig, den Inhalt der Gerechtigkeit zu definieren und eine allgemein anerkannte Definition zu erhalten.

Klassische Vorstellungen von Gerechtigkeit

Platon in „Der Staat“ (Die Republik)

Platon unterscheidet drei Vorstellungen von Gerechtigkeit:

  1. Die positivistische Auffassung: Der Wille des Stärkeren, der sich in den Gesetzen manifestiert.
  2. Die formale Position: Die Haltung, jedem das Seine zu geben, was jedoch die Definition dessen, was „das Seine“ ist, offenlässt.
  3. Die materielle Position (Platons eigene): Ganzheit und Harmonie der Tugenden in Individuen und in der Gesellschaft; das höchste Gut, dessen Wissen nur durch Kontemplation erlangt werden kann.

Aristoteles: Allgemeine und Besondere Gerechtigkeit

Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Gerechtigkeit:

  1. Die Allgemeine Gerechtigkeit: Die Summe aller Tugenden (ethischer Begriff der Gerechtigkeit).
  2. Die Besondere Gerechtigkeit: Der politische Begriff der Gerechtigkeit, der in intersubjektiven Beziehungen in der Gesellschaft auftritt. Ihr Ziel ist die Gleichheit. Da jedoch nicht alle Fälle gleich behandelt werden können, unterscheidet Aristoteles zwei Unterarten:
    • Verteilungsgerechtigkeit (Distributive): Das Kriterium der Verteilung erfolgt proportional zu den Verdiensten.
    • Korrelative oder Synallagmatische Gerechtigkeit: Sucht strikte Gleichheit, basierend auf dem Wert der Dinge. Diese wird weiter unterteilt in:
      • Kommunikative Gerechtigkeit: Wenn der Wille der Parteien die Gleichheit herstellt.
      • Gerichtliche Gerechtigkeit: Wenn der Richter die Gleichheit herstellt.

Aristoteles unterscheidet zudem zwischen natürlichem Recht (fair an jedem Ort und in jeder Kultur, unveränderlich) und gesetztem Recht (abhängig von den jeweiligen Bestimmungen, variabel). Das gesetzte Recht muss durch Billigkeit (Equity) korrigiert werden, wenn es unangemessen ist, weil es Merkmale auf Fälle anwendet, die in der Norm nicht vorgesehen sind.

Moderne Reflexionen zur Gerechtigkeit (Kelsen)

Diese klassischen Vorstellungen dienten als Grundlage für spätere Theorien. In der jüngeren Geschichte haben Denker wie Ross, Hart, Rawls und Kelsen die Reflexion über die Gerechtigkeit fortgesetzt. Wir konzentrieren uns auf H. Kelsen.

H. Kelsen definiert Gerechtigkeit in seinem Essay „Was ist Gerechtigkeit?“ aus zwei Perspektiven:

  1. Im Wesentlichen: Eine mögliche und nicht notwendige Funktion einer sozialen Ordnung.
  2. Sekundär: Eine menschliche Tugend, da sie das Verhalten darstellt, das dieser gerechten sozialen Ordnung entspricht.

Kollektive Rechtswerte

Diese Werte betreffen die Interessen der Gruppe und der Gesellschaft. Die wichtigsten sind:

  1. Sozialer Frieden

    Das Bestreben einer Gruppe, Beziehungen stets friedlich zu gestalten. Dieser Wert ist oft das Ergebnis der Gerechtigkeit.

  2. Das Gemeinwohl

    Es ist nicht möglich, den Nutzen einer Gemeinschaft zu gewährleisten, wenn ihre Mitglieder unzufrieden sind oder unfähig, individuelles Verhalten zu zeigen. Gerechtigkeit ist eine notwendige Bedingung für das Gemeinwohl.

  3. Rechtssicherheit

    Entstand mit der Moderne und dem Konzept des Rechtsstaates. Die Existenz des Staates ist eine Quelle der Sicherheit, da er das Zwangmonopol sichert und durch gesetzliche Normen handelt. Für einige Autoren ist die Rechtssicherheit nicht nur ein Wert, sondern ein wesentliches Element des Rechts.

    Man unterscheidet zwei Dimensionen der Rechtssicherheit: die Sicherheit der Rechtsordnung und das Vertrauen in das Rechtssystem.

    Grundelemente der Rechtssicherheit
    • Die Allgemeinheit der Normen
    • Publizität (Bekanntmachung)
    • Klarheit
    • Stabilität (Angemessene Geltungsdauer)
    • Rückwirkungsverbot
    • Die Fülle (Keine Fälle oder Situationen bleiben ohne rechtliche Absicherung)

Individuelle Rechtswerte

Diese Werte beeinflussen die Interessen des Einzelnen und bilden zunehmend die Achse, um die sich die Menschenrechte konzentrieren:

  1. Die Persönliche Würde

    Nach Luno ist die Würde nicht nur negativ als Garantie zu verstehen, dass die Person keinen Beleidigungen oder Demütigungen ausgesetzt wird. Sie beinhaltet auch die positive Bestätigung der vollen Entfaltung der Persönlichkeit, der Anerkennung der Autodisponibilität und der Selbstbestimmung. Für De Castro manifestiert sich die Würde auch im Selbstbewusstsein, der Fähigkeit des Menschen, sich seiner eigenen Existenzweise in der Welt bewusst zu sein.

    Viele Autoren argumentieren, dass die Würde die Grundlage aller anderen grundlegenden individuellen Werte und der Menschenrechte ist. Sie dient als materielles Prinzip der Gerechtigkeit und als Begrenzung des positiven Rechts.

  2. Die Persönliche Freiheit

    Nach Luno ist es notwendig, festzulegen, was, für wen und wofür Freiheit gilt. Einige Autoren sprechen von persönlicher Autonomie, die die Anerkennung der freien Wahl über die eigenen Interessen erfordert, solange Dritte nicht beeinträchtigt werden.

  3. Die Persönliche Gleichheit

    Einige Kommentatoren sehen die Gleichheit als normatives Prinzip oder als Artefakt, da die empirische Realität vielfältige Unterschiede zwischen den Menschen aufzeigt. Basierend auf der Würde kann jedoch erklärt werden, dass alle Menschen im Grunde gleich sind und entsprechend behandelt werden sollten.

    Man unterscheidet zwei Formen der Gleichheit:

    • Formelle Gleichheit (Gleichheit vor dem Gesetz): Führt zu einer Reihe von Annahmen:
      • Allgemeine Gesetze: Rechtliche Vorschriften und Gerichte sollten für alle gleich sein.
      • Ausrichtung des Gesetzes: Unerheblichkeit bestimmter Unterschiede.
      • Differenzierung unter dem Gesetz: Wesentliche Unterschiede sollten anders behandelt werden.
    • Materielle Gleichheit: Ausgleich von Gütern und sozioökonomischen Situationen.

    Diese Unterscheidungen führen uns zu einem dynamischen Konzept der Gleichheit, das die Ungerechtigkeit eines starren Egalitarismus vermeidet.

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