José Ortega y Gasset: Philosophie, Perspektivismus & Lebenswerk

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José Ortega y Gasset (1883–1955): Leben und Kontext

Ortega y Gasset (1883–1955) gehörte zur Generación del 14 (Generation von 14) und wirkte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während seines Lebens erlebte Spanien die unterschiedlichsten politischen Formen.

Internationaler und Spanischer Kontext

Im internationalen Kontext standen das Ende des spanischen Imperiums, der Erste Weltkrieg, die Russische Revolution, der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg. Ortega engagierte sich stets politisch, sei es durch Partnerschaften im Dienste der Republik oder durch die Gründung von Publikationen wie der Zeitschrift Revista de Occidente (Der Westen).

Soziale und Kulturelle Entwicklungen

Im sozialen Bereich wuchs der politische Einfluss der Mittelschicht, und die Beteiligung der Massen wurde teils als Gefahr für die Gesellschaft gesehen. Die Kultur erweiterte sich auf alle gesellschaftlichen Klassen. Neue Kunstbewegungen führten zu Veränderungen in allen Bereichen der Schöpfung.

Wissenschaft und Philosophische Revolutionen

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte die Wissenschaft eine Revolution mit weitreichenden Veränderungen. Zu dieser Zeit war ihre zerstörerische Kraft größer denn je. Auch in der Philosophie fand eine Revolution statt; ihr Bild wurde vielfältiger. Wichtige Einflüsse auf Ortegas Denken waren:

  • Neukantianismus
  • Diltheys Historismus
  • Husserls Phänomenologie
  • Heideggers Existenzphilosophie

Ortegas Philosophie: Grundlegende Konzepte

Erkenntnistheorie: Der Perspektivismus

Ortega argumentiert, dass wir die Realität nur aus unseren besonderen Umständen, unserer persönlichen Situation und Perspektive erkennen können. Diese Theorie ist bekannt als Perspektivismus. Wissen kann niemals als fertig oder endgültig betrachtet werden, da man stets eine neue Sichtweise der Vergangenheit integriert oder eine neue Integration vornimmt. Die Erkenntnis der Wahrheit ergibt sich aus der Integration verschiedener Sichtweisen. Ziel ist es, neue Perspektiven zu suchen, um sich der Wahrheit anzunähern. Daher distanziert sich Ortega von Skeptizismus und Relativismus. Er erklärt, dass die Wahrheit die Beteiligung vieler verschiedener Standpunkte erfordert, die wir sammeln müssen, weil sie sich ergänzen.

Die Vitale, Historische und Narrative Vernunft

Die Untersuchung und das Verständnis des Lebens erfordern eine Vernunft, die fähig ist, das Leben und die Geschichte zu verstehen. Ortega schlägt eine vitale Vernunft vor, die gleichzeitig historisch und narrativ ist.

  • Vitale Vernunft

    Meditation über die Struktur des Lebens und das Verständnis der Kontinuität der Improvisation, die das Leben darstellt.

  • Historische Vernunft

    Da das Leben einen zeitlichen Charakter hat, muss die Vernunft fähig sein, die geschichtliche Dimension des menschlichen Lebens zu erfassen.

  • Narrative Vernunft

    Nur sie kann den Menschen erklären, ein Wesen, das keine Natur, sondern Geschichte hat. Sie ist notwendig, um in der Geschichte zu verstehen, was wir waren (und wer wir sind).

Ortegas Verständnis der Philosophie

Die Grundgedanken seiner Philosophie sind:

  1. Es ist notwendig, die Vernunft zu nutzen. Man muss philosophieren, über eine simple Erklärung der Welt hinauszugehen, Probleme zu suchen und zur Klärung der Realität beizutragen.
  2. Der Grund, warum der Mensch Philosophie betreiben sollte, ist, dass der Mensch, im Gegensatz zu den Tieren, nicht natürlich lebt. Die Philosophie hilft zu wissen, was zu tun ist und wie man leben muss. Die Philosophie bietet eine radikale Orientierung in unserer Welt, mit uns selbst und mit Anderen.
  3. Die Philosophie ist notwendig, um menschliche Probleme mithilfe der Vernunft zu lösen. Die Philosophie soll von Grund auf neu gemacht werden, wobei das eigene Leben als die grundlegende Wirklichkeit, ausgehend von der eigenen bestimmten Zeit und dem eigenen Standort, als Ausgangspunkt dient.
  4. Der Wert der Philosophie liegt nicht nur in der Bereitstellung von Lösungen, sondern in der Fähigkeit, absolut unvermeidliche Probleme aufzuzeigen (und die ersten Probleme der Vergangenheit zu enthüllen).

Kritik an Realismus und Idealismus

Ortega entwickelt seine Philosophie als eine Kritik an der realistischen und der idealistischen Tradition.

  • Kritik am Realismus

    Der Fehler dieser Philosophie liegt in der Annahme einer existierenden Realität, die unabhängig vom erkennenden Subjekt ist.

  • Kritik am Idealismus

    Die Idealisten machten einen Fehler, weil sie durch die Betonung der Bedeutung des Subjekts die Realität letztendlich auf das Bewusstsein eines Subjekts reduzierten.

Im Gegensatz zu Realismus und Idealismus schlägt Ortega eine neue Sichtweise der Subjekt-Objekt-Beziehung vor. Das Richtige ist, von einer Subjekt-Objekt-Interdependenz zu sprechen.

Das Leben als Fundamentale Realität

Der Begriff des Lebens als die fundamentale Realität

Ortega sagt, dass das erste philosophische Problem für uns das Leben ist, da es die grundlegende Wirklichkeit ist, die uns zuerst präsentiert wird. Das Leben ist die letzte Wirklichkeit; jede Art von Wirklichkeit setzt immer das Leben voraus, was bedeutet, dass es fundamental ist. Ortega bezieht sich dabei auf unser Leben, das jedes Einzelnen im Besonderen.

Die Untersuchung des Lebens

Das Leben als fundamentales philosophisches Problem erfordert eine Annäherung und Untersuchung. Der phänomenologische Ansatz ist zwar gültig, aber Ortega will noch weiter gehen. Nach Ortega müssen wir bei der Untersuchung des Lebens Folgendes berücksichtigen:

  • Wir sind wesentlich umständlich (d.h., in Umstände eingebettet).
  • Wir müssen uns selbst berücksichtigen. Wir sind aktiv und handeln in und mit den Umständen, und wir wählen, um unser menschliches Projekt zu erschaffen.

Ortega bekräftigt die Interdependenz zwischen dem Selbst und der Welt, die interaktive Koexistenz zwischen Subjekt und Realität. Dieses Nebeneinander drückte Ortega in seiner bekannten These aus: „Ich bin ich und mein Umstand, und wenn ich ihn nicht rette, rette ich mich nicht.“

Kategorien und Attribute des Lebens

Das Leben, das sich als letzte Wirklichkeit präsentiert, ist bewusst, da ich in einer menschlichen Welt gegeben wurde (dies ist die Dimension des Schicksals). Das Leben ist auch gewählt, weil ich derjenige bin, der entscheiden muss, wie ich darauf reagiere, ich wähle Möglichkeiten. Das Thema der Entscheidungen, die wir treffen, ist besonders wichtig und wurde ab 1929 zu einem zentralen Thema in Ortegas Philosophie. Die Beschreibung des Lebens konzentriert sich auf folgende Eigenschaften oder Attribute:

  • Das Leben ist das, was wir sind und was wir tun.
  • Leben ist, sich lebendig zu fühlen, sich bewusst zu sein.
  • Leben ist, in der Welt gefunden zu werden, in einem bestimmten Umstand.
  • Das Leben ist immer unerwartet, weil wir die Welt, in der wir leben, nicht wählen können.
  • Das Leben ist ein persönliches Problem, weil wir frei entscheiden können, wie wir uns verhalten, obwohl wir die Umstände, in denen sich unser Leben entfaltet, nicht ausblenden können (diese sind vom Schicksal geprägt).
  • Unser Leben und unser Sein wachsen, weil das Leben zu leben bedeutet, abzuwägen und zu entscheiden, was wir sein werden.
  • Das Leben ist zeitlich begrenzt, es ist Projektion in die Zukunft (*futurición*), es ist das, was noch nicht ist.
  • Das Leben ist wesentlich Veränderung. Das Sein ist nicht statisch, sondern kontinuierliche Bewegung.

Die Geschichtlichkeit des Lebens und die Generationen

Ortega betont die geschichtliche Dimension des menschlichen Lebens. Der Mensch hat keinen festen Charakter; der Mensch ist nicht immer auf dieselbe Weise Mensch. In uns beinhaltet die Freiheit eine erzwungene Wahl zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, die uns offenstehen. Unser Leben unterliegt nicht dem Instinkt, sondern seinen historischen Umständen. Dafür benötigen wir eine historische Analysemethode, die es uns erlaubt, den Menschen besser zu verstehen: die Generationsmethode.

Die Generationsmethode

Ortega weist darauf hin, dass historische Veränderungen nicht kontinuierlich sind. Es gibt eine gewisse Stabilität, die durch kristallisierte Zeiten (Generationen) genannt wird, die jeweils etwa 15 Jahre umfassen. Das Verhältnis zwischen einer Generation und der vorherigen kann sein:

  • Konsistenz: Beide bewegen sich durch die gleichen Interessen; dies führt zu einer kumulativen Zeit (oder Epoche).
  • Heterogenität: Beide bewegen sich durch unterschiedliche Interessen; dies führt zu einer revolutionären Epoche.

Masse und Minderheit

Ortega unterscheidet zwei verschiedene menschliche Typen:

  • Die Masse, die eher dazu neigt, feste Muster zu konservieren und in der Gegenwart zu leben.
  • Die Minderheit, die dazu neigt, die Form zu durchbrechen und in die Zukunft zu leben.

Anhang: Die Aristotelische Theorie der Erkenntnis

Frage 4: Aristoteles über Wissen und Abstraktion

Aristoteles sagt, dass all unser Wissen aus der Erfahrung stammt. Er verachtete im Gegensatz zu Platon die sensible Erkenntnis nicht. Aristoteles erkennt an, dass das sensible Wissen nur der Ausgangspunkt der Wissensentstehung ist. Wir müssen zum intellektuellen Wissen übergehen, ein Prozess, den man Abstraktion nennt, und versuchen, die Formen getrennt vom einzelnen Gegenstand zu erhalten. Zuerst erhalten wir die konkrete und individuelle Substanz, von der wir in unserer Vorstellung ein Bild formen. Dieses Bild wird durch den Agenten Geist (aktiver Verstand) vom Patienten Geist (passiver Verstand) abstrahiert und erkannt.

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