Soziologie der Kriminalität und Abweichung: Theorien und Konzepte
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Grundlagen: Kriminalität und Abweichung
1. Erläutern Sie die Bedeutung des Ausdrucks: 'Konformität und Abweichung sind ein untrennbares Paar'.
Diese Konzepte sind untrennbar, da es keinen allgemeingültigen Begriff für 'normales Verhalten' oder Konformität gibt. Nur im Kontrast zueinander wird ihre Bedeutung klar: Ein Verhalten wird als abweichend definiert, weil es das Gegenteil von konformem Verhalten darstellt (und umgekehrt). Ohne die Definition von Konformität gäbe es keine Abweichung und ohne Abweichung wäre der Begriff der Konformität bedeutungslos.
2. Welche Funktion haben Gerechtigkeit und Strafe für C. Beccaria? Was besagt der utilitaristische Begriff der Strafe?
Für Cesare Beccaria ist die Funktion des Rechts, die individuellen Freiheiten zu gewährleisten. Die Funktion der Strafe ist es, beim potenziellen Täter Furcht vor einer Sanktion zu erzeugen, um ihn von der Tat abzuhalten. Der utilitaristische Begriff der Strafe besagt, dass die Strafe so bemessen sein sollte, dass die Furcht vor dem zu erwartenden Leid (der Strafe) den potenziellen Täter davon abhält, die Straftat zu begehen. Der Nutzen der Strafe liegt in ihrer abschreckenden Wirkung.
3. Nennen Sie die drei Prinzipien der Angemessenheit der Strafe nach C. Beccaria, die die Grundlage des modernen Strafrechts bilden.
- Rationalität der Strafe: Strafen sollen auf Vernunft basieren, nicht auf Willkür oder Rache.
- Proportionalität der Strafe: Die Schwere der Strafe soll im Verhältnis zur Schwere der Tat stehen.
- Gesetzlicher Ursprung des Sanktionssystems (Legalitätsprinzip): Strafen dürfen nur auf Grundlage von Gesetzen verhängt werden, die vor der Tat existierten (nulla poena sine lege).
4. Welcher Schriftsteller der 'Moralstatistik' führte das Konzept des 'Durchschnittsmenschen' ein und verstand Kriminalität als eine feste Rate, die die Gesellschaft jährlich zahlen muss, wobei die Neigung zur Kriminalität auf allen Ebenen der Gesellschaft existiert?
Adolphe Quetelet.
5. Welchen methodischen Beitrag leistete die Schule der Kriminalanthropologie im Allgemeinen?
Den Einsatz von Statistik zur Untersuchung von Kriminalität.
6. Fassen Sie die Beiträge von Beccaria, Lombroso und Quetelet in Bezug auf kriminelles Verhalten zusammen.
- Beccaria: Kriminalität ist rationales Verhalten. Der Täter entscheidet frei, eine Handlung auszuführen. Beccaria betont den Nutzen einer staatlichen Strafjustiz zur Verbrechensbekämpfung durch Abschreckung.
- Quetelet: Die Ursache kriminellen Verhaltens ist sozial. Die Häufigkeit von Kriminalität hängt vom sozialen Umfeld ab und tritt mit statistischer Regelmäßigkeit auf ('feste Rate'). Staatliche Behörden sollten dies analysieren, um Kriminalität zu kontrollieren.
- Lombroso: Verteidigte einen biologischen Ansatz (der 'geborene Verbrecher'). Kriminelle Neigungen seien genetisch vererbt und an körperlichen Merkmalen erkennbar. Er erstellte eine Typologie von Straftätern und sah Kriminalität als pathologisches Verhalten.
7. Was ist Abweichung? Nennen Sie zwei Beispiele.
Abweichung (oder Devianz) ist Verhalten, das von den in einer Gesellschaft oder Gruppe geltenden Normen und Regeln abweicht. Dies kann soziale Normen oder gesetzliche Vorschriften betreffen.
Beispiele:
- Tierquälerei zum Vergnügen.
- Absichtliches Legen von Waldbränden.
8. Was verstehen wir unter dem Ausdruck 'die Abweichung ist universell'? Nennen Sie zwei Beispiele.
Der Ausdruck bedeutet, dass abweichendes Verhalten ein grundlegender Bestandteil jeder menschlichen Gesellschaft ist. Da alle Gesellschaften Regeln haben, die das Zusammenleben ordnen, gibt es zwangsläufig auch Verhalten, das diese Regeln bricht. Was als abweichend gilt, ist jedoch kulturell und historisch relativ.
Beispiele:
- In Kulturen, in denen Jagen ausschließlich der Nahrungsbeschaffung dient, wird das Töten von Tieren zum reinen Vergnügen als abweichend betrachtet, während es in anderen Kontexten (z.B. Trophäenjagd) akzeptiert sein kann.
- Obwohl gesetzlich verboten und sanktioniert (z.B. Telefonieren am Steuer ohne Freisprecheinrichtung), weichen viele Menschen von dieser Verkehrsregel ab, was zeigt, dass Abweichung auch bei klaren gesetzlichen Verboten vorkommt.
9. Was ist der entscheidende Unterschied zwischen einer strafrechtlichen/polizeilichen und einer soziologischen Sichtweise auf Kriminalität? Erläutern Sie Ihre Antwort.
Die strafrechtliche/polizeiliche Sichtweise konzentriert sich auf die Verletzung von Strafgesetzen. Sie identifiziert Täter, wendet Sanktionen an und zielt auf die Durchsetzung der Rechtsordnung ab. Kriminalität ist hier primär ein juristisches Faktum.
Die soziologische Sichtweise betrachtet Kriminalität als eine Form sozialen Handelns und als soziales Konstrukt. Sie fragt nicht nur, wer gegen welche Gesetze verstößt, sondern auch: Warum werden bestimmte Verhaltensweisen als kriminell definiert? Wie entstehen diese Definitionen? Wie funktionieren die Institutionen (Polizei, Justiz), die Regeln erlassen und Sanktionen durchsetzen? Sie untersucht die sozialen Ursachen und Folgen von Kriminalität und Abweichung, unabhängig davon, ob ein Verhalten legal oder illegal ist.
10. Was bedeutet 'Abweichung ist eine Frage der sozialen Definition'? Erklären Sie.
Das bedeutet, dass kein Verhalten an sich abweichend ist. Es wird erst zur Abweichung, weil die Gesellschaft (oder eine mächtige Gruppe innerhalb der Gesellschaft) es als solches definiert und bewertet. Normen und Werte, die festlegen, was richtig und falsch ist, werden sozial konstruiert. Da Konformität und Abweichung untrennbar sind, definiert die Gesellschaft durch ihre Regeln gleichzeitig auch, welches Verhalten diesen Regeln nicht entspricht und somit als abweichend gilt und sanktioniert werden kann.
11. Herr A sieht jemanden nach einem Banküberfall flüchten. Nachdem er ihn zum Anhalten aufgefordert hat, schießt er und verletzt den Angreifer. Erklären Sie, wie diese Handlung je nach Fall als legal oder illegal angesehen werden kann.
- Handlung des Bankräubers: Diese ist eindeutig illegal, da sie gegen das Strafgesetzbuch verstößt (Raub unter Anwendung von Gewalt oder Drohung). Das Gesetz definiert dieses Verhalten als Verbrechen.
- Handlung des Bürgers Herrn A: Die Legalität dieser Handlung hängt von den spezifischen Umständen und der Rechtsordnung ab. Sie könnte als legal im Rahmen der Nothilfe oder Notwehr angesehen werden, wenn das Schießen das einzige notwendige Mittel war, um eine gegenwärtige Gefahr (z.B. für sich selbst oder andere) abzuwenden oder den flüchtenden Täter festzuhalten. Sie könnte jedoch als illegal (z.B. versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung) bewertet werden, wenn die Gewaltanwendung unverhältnismäßig war (z.B. wenn der Räuber unbewaffnet war und keine unmittelbare Gefahr mehr darstellte). Die genaue rechtliche Bewertung hängt von der Prüfung des Einzelfalls durch die Justiz ab.
Durkheim: Kriminalität als normales soziales Faktum
1. Erklären Sie, warum für Émile Durkheim Kriminalität ein 'normales soziales Faktum' ist.
Für Émile Durkheim ist Kriminalität ein 'normales' soziales Faktum, weil sie in allen Gesellschaften zu allen Zeiten vorkommt. Sie ist unvermeidlich, da absolute Konformität aller Mitglieder mit allen Regeln unmöglich ist. Abweichung (und damit auch Kriminalität als eine Form davon) ist somit ein integraler Bestandteil jeder gesunden Gesellschaft. 'Normal' bedeutet hier nicht 'gut' oder 'wünschenswert', sondern 'statistisch erwartbar' und 'funktional notwendig'.
2. 'Normal' und 'pathologisch' sind für Durkheim zwei Seiten eines funktionalen Komplexes, der den Prozess des sozialen Wandels realisiert. Erklären Sie das Konzept mit zwei modernen Beispielen: Gewalt gegen Frauen und die Lohnungleichheit von Arbeiterinnen.
Durkheim sieht Abweichung als potenziellen Motor sozialen Wandels. Was heute als 'pathologisch' (krankhaft, schädlich) gilt und sanktioniert wird, war vielleicht früher 'normal' oder umgekehrt. Der Konflikt zwischen bestehenden Normen und abweichendem Verhalten kann zu einer Neubewertung und Veränderung der Normen führen.
- Gewalt gegen Frauen: Dieses Verhalten wird heute zunehmend als 'pathologisch' definiert und strafrechtlich verfolgt. In früheren Zeiten wurde es oft als 'normal' oder als Privatsache betrachtet und toleriert. Die heutige Sanktionierung ist das Ergebnis eines sozialen Wandels, der durch abweichende Forderungen (z.B. der Frauenbewegung) angestoßen wurde, die Normen zu ändern.
- Lohnungleichheit von Arbeiterinnen: Diese wird oft noch als 'normales' soziales Faktum hingenommen, obwohl sie rechtlich nicht zulässig ist. Abweichendes Verhalten wie feministische Proteste, Streiks oder Klagen gegen Lohndiskriminierung fordern die bestehende Praxis heraus. Sie können sozialen Wandel anstoßen (z.B. durch neue Gesetze zur Lohngleichheit oder deren konsequentere Anwendung), wodurch die Lohnungleichheit zunehmend als 'pathologisch' definiert wird.
3. Differenzieren Sie zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen von É. Durkheim und M. Weber über soziale Devianz.
- Durkheim: Sieht die Gesellschaft als durch ein Kollektivbewusstsein und gemeinsame Normen integriert. Abweichung ist ein Verstoß gegen diese kollektiven Normen und bedroht die soziale Ordnung, kann aber auch funktional sein (Normverdeutlichung, sozialer Wandel). Strafe dient der Bestätigung der verletzten Normen und der Stärkung des Kollektivbewusstseins.
- Weber: Analysiert soziale Abweichung eher im Kontext von Macht, Herrschaft und sozialen Konflikten. Abweichung kann als Infragestellung der bestehenden (legitimen oder illegitimen) Herrschaftsordnung durch bestimmte Gruppen verstanden werden. Es geht um den Kampf verschiedener Gruppen um die Durchsetzung ihrer Interessen und Wertvorstellungen, wobei die herrschende Gruppe definiert, was als abweichend gilt.
4. Was sind positive soziale Funktionen der Abweichung?
Abweichung kann positive Funktionen für die Gesellschaft haben:
- Stärkung des Gruppenzusammenhalts: Die gemeinsame Ablehnung und Sanktionierung von Abweichung kann die Konformität der Mehrheit und die Solidarität innerhalb der Gruppe stärken.
- Klärung von Normgrenzen: Reaktionen auf Abweichung machen soziale Regeln und deren Grenzen deutlich sichtbar.
- Anstoß zu sozialem Wandel: Abweichendes Verhalten kann auf soziale Probleme oder überholte Normen hinweisen und Innovationen sowie Anpassungen der sozialen Ordnung an neue Bedürfnisse fördern.
5. Erklären Sie die Beziehung zwischen Devianz und sozialem Wandel. Nennen Sie Beispiele.
Die Beziehung ist eng: Abweichendes Verhalten kann sozialen Wandel auslösen. Wenn Individuen oder Gruppen von etablierten Normen abweichen, können sie damit bestehende Regeln und Werte in Frage stellen. Wenn diese Abweichung Unterstützung findet oder aufzeigt, dass die alten Normen nicht mehr den Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechen, kann dies zu einer Veränderung der sozialen Ordnung führen.
Beispiel: Die Aktionen von Umweltschutzgruppen wie Greenpeace gegen Walfang waren zunächst klar abweichend von internationalen Normen und Praktiken. Durch ihre Proteste trugen sie jedoch dazu bei, das öffentliche Bewusstsein zu schärfen und internationale Abkommen zum Schutz von Walen (sozialer Wandel) zu fördern.
6. Was meinen wir, wenn wir sagen, dass Abweichung dazu dient, den Zusammenhalt der sozialen Gruppe zu erhöhen? Geben Sie Beispiele.
Aus einer relativistischen Perspektive wird eine Gruppe durch gemeinsame Normen zusammengehalten. Wenn ein Mitglied gegen diese Normen verstößt (Abweichung), reagiert die Gruppe oft mit Ablehnung oder Sanktionen. Dieser Prozess der gemeinsamen Abgrenzung vom Abweichler und der Bestätigung der eigenen Regeln stärkt das 'Wir-Gefühl' und den Zusammenhalt der konformen Mitglieder.
Beispiel: In einer Schulklasse wird unhöfliches Verhalten von Mitschülern missbilligt oder vom Lehrer sanktioniert (z.B. Ausschluss). Diese Reaktion bestätigt die Norm des höflichen Umgangs für die restliche Klasse und stärkt den Zusammenhalt derjenigen, die sich an die Regel halten, indem sie sich gemeinsam vom 'Störenfried' distanzieren.
7. Hier sind zwei Beispiele für Abweichung. Geben Sie an, wie jede positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben kann. A) Eine Gruppe von Homosexuellen und Lesben demonstriert auf überlasteten Straßen in Madrid. B) Ein Steuerhinterzieher wird ins Gefängnis geschickt.
- A) Demonstration von Homosexuellen und Lesben: Dieses abweichende Verhalten (Verkehrsbehinderung durch Demonstration) kann positive Auswirkungen haben, wenn es auf gesellschaftliche Missstände oder Diskriminierung aufmerksam macht. Wenn die Forderungen der Gruppe (z.B. nach rechtlicher Gleichstellung, Anerkennung) von der Gesellschaft als legitim anerkannt werden, kann dies zu sozialem Wandel, Modernisierung und einer Anpassung der Gesetze und Normen führen (z.B. Einführung der Ehe für alle).
- B) Inhaftierung eines Steuerhinterziehers: Diese Sanktionierung abweichenden Verhaltens hat eine positive Wirkung, indem sie die Norm der Steuerpflicht bestätigt (Generalprävention). Sie signalisiert allen Bürgern, dass Regelverstöße geahndet werden. Dies kann die Steuermoral derjenigen stärken, die ihre Pflichten erfüllen, und andere durch die Furcht vor Strafe davon abhalten, Steuern zu hinterziehen. Dies sichert die Finanzierung öffentlicher Aufgaben.
Chicagoer Schule und Differentielle Sozialisation
1. Erklären Sie kurz die Theorie der 'doppelten Sozialisation'. Wenden Sie sie auf das Beispiel des Berufs des 'Rechtsberaters' oder Anwalts an.
Die Theorie der 'doppelten Sozialisation' (oft im Kontext der Differentiellen Assoziation oder Subkulturtheorien diskutiert) besagt, dass Individuen nicht nur durch die Normen der Gesamtgesellschaft geprägt werden, sondern auch durch die spezifischen Normen und Werte kleinerer Gruppen (z.B. Cliquen, Berufs- oder soziale Gruppen), denen sie angehören. Innerhalb dieser Gruppen können Verhaltensweisen als normal oder akzeptabel gelten, die von der Gesamtgesellschaft als abweichend betrachtet werden. Dies kann zu einer 'kriminellen Gewohnheit' führen, wenn die Gruppennormen kriminelles Verhalten fördern.
Beispiel Rechtsberatung/Anwalt: Innerhalb der Berufsgruppe der Anwälte können bestimmte Praktiken, wie z.B. die aggressive Ausnutzung von Gesetzeslücken zur Steuervermeidung für Klienten, als professionell geschickt oder 'normal' angesehen werden, auch wenn sie an der Grenze zur Illegalität liegen oder von der Allgemeinheit als moralisch fragwürdig (abweichend) betrachtet werden. Der Anwalt wird sowohl durch allgemeine gesellschaftliche Normen als auch durch die spezifischen Normen und Erwartungen seiner Berufsgruppe sozialisiert.
2. Erklären Sie die Formulierung 'der Verbrecher als Opfer einer sozialen Pathologie', die sich auf den therapeutischen Zweck der Gründer der Chicagoer Schule bezieht.
Die Chicagoer Schule untersuchte die sozialen Bedingungen in bestimmten Stadtvierteln (z.B. Armut, soziale Desorganisation, hohe Mobilität), die hohe Kriminalitätsraten aufwiesen. Sie sahen den einzelnen Kriminellen weniger als von Natur aus böse oder biologisch determiniert, sondern eher als Produkt seines sozialen Umfelds. Die 'soziale Pathologie' bezieht sich auf die krankhaften oder dysfunktionalen sozialen Bedingungen (z.B. mangelnde soziale Kontrolle, Konflikte zwischen Kulturen), die in bestimmten Gegenden herrschen und kriminelles Verhalten fördern. Der 'therapeutische Zweck' bestand darin, nicht nur den Einzelnen zu bestrafen, sondern die sozialen Ursachen von Kriminalität zu bekämpfen, also die 'soziale Pathologie' zu heilen, um Kriminalität zu reduzieren.
3. Die Zuwiderhandlung kann auf zwei Arten betrachtet werden: als eine juristische Tatsache oder als eine soziale Tatsache. Erklären Sie die Unterschiede zwischen ihnen und warum die erstere zur Entstehung einer kausalen Theorie der Abweichung und die zweite zu umfassenden Theorien der Devianz führt.
- Zuwiderhandlung als juristische Tatsache: Hier wird Kriminalität als ein Verhalten betrachtet, das gegen ein bestehendes Strafgesetz verstößt und eine definierte Strafe nach sich zieht. Der Fokus liegt auf der Tat und ihrer rechtlichen Bewertung. Dieser Ansatz führt eher zu kausalen Theorien, die versuchen zu erklären, warum Individuen diese vordefinierten kriminellen Handlungen begehen (z.B. durch biologische, psychologische oder bestimmte soziale Faktoren). Sie suchen nach den Ursachen für ein bereits als kriminell definiertes Verhalten.
- Zuwiderhandlung als soziale Tatsache: Hier wird Kriminalität als ein Verhalten betrachtet, das soziale Normen verletzt und soziale Reaktionen hervorruft. Der Fokus liegt auf dem Prozess der Definition von Abweichung und der sozialen Interaktion. Dieser Ansatz führt eher zu umfassenden (interpretativen) Theorien (z.B. Labeling-Ansatz), die versuchen zu verstehen, wie und warum bestimmte Verhaltensweisen überhaupt als abweichend oder kriminell definiert werden und welche Rolle soziale Reaktionen und Machtstrukturen dabei spielen. Sie hinterfragen die Definition von Kriminalität selbst.
4. Was ist der grundlegende Unterschied zwischen kausalen Theorien und dem Verständnis für die Umleitung (interpretativen Theorien)?
Kausale Theorien suchen nach den Ursachen (Ursache-Wirkungs-Beziehungen) für kriminelles Verhalten. Sie fragen: Welche Faktoren (biologisch, psychologisch, sozial) führen dazu, dass eine Person kriminell wird? Sie nehmen die Definition von Kriminalität oft als gegeben hin und konzentrieren sich auf die Ätiologie (Ursachenlehre) des Verbrechens.
Interpretative (verstehende) Theorien (wie der Labeling-Ansatz oder die Ethnomethodologie) konzentrieren sich auf den Prozess, wie Verhalten als abweichend definiert und interpretiert wird. Sie fragen: Wie kommen soziale Definitionen von Kriminalität zustande? Wie beeinflusst die soziale Reaktion (z.B. durch Polizei, Justiz, Gesellschaft) das Verhalten und die Identität des Individuums? Sie betonen die soziale Konstruktion von Abweichung und die Bedeutung von Interaktion und Zuschreibungsprozessen.
5. Seit Mitte 1850 wurden die fünf wichtigsten Eigenschaften des Verbrechens festgestellt. Was sind sie?
Basierend auf frühen Kriminalstatistiken (wie denen von Quetelet) wurden typische Merkmale der registrierten Kriminalität identifiziert. Kriminalität war demnach überwiegend:
- Konstant (in ihrer Rate über die Zeit)
- Männlich
- Jung
- Urban (in Städten häufiger als auf dem Land)
- Von Angehörigen unterer sozialer Schichten ('Bedürftige') begangen
(Anmerkung: Diese Merkmale beziehen sich auf die polizeilich erfasste Kriminalität und spiegeln möglicherweise nicht die tatsächliche Verteilung wider, sondern auch Selektionsprozesse der Kontrollinstanzen.)
6. Erläutern Sie die Kritik an Kriminalstatistiken, wonach 'die Zahlen nur die Tätigkeit der Polizei und des Rechts berücksichtigen'.
Diese Kritik besagt, dass offizielle Kriminalstatistiken (z.B. Polizeiliche Kriminalstatistik) nicht die tatsächliche Kriminalität (das Hellfeld und Dunkelfeld) abbilden, sondern nur die Fälle, die zur Anzeige gebracht, von der Polizei registriert und bearbeitet werden. Die Zahlen spiegeln somit nicht nur das kriminelle Verhalten wider, sondern auch:
- Die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung
- Die Prioritätensetzung und Kontrollintensität der Polizei
- Die Definitions- und Registrierungspraktiken der Behörden
- Gesetzesänderungen
Daher messen Statistiken oft eher die Aktivität der Kontrollinstanzen als das Kriminalitätsgeschehen selbst und sagen wenig über die wahre Natur und Bedeutung der nicht erfassten Kriminalität (Dunkelfeld) aus.
7. Was ist die Tendenz zur Kriminalität für Quetelet, Lombroso, Tarde und Beccaria?
- Quetelet: Die Tendenz zur Kriminalität ist eine statistische Wahrscheinlichkeit, die vom sozialen Umfeld abhängt. Sie ergibt sich aus der Abweichung vom 'Durchschnittsmenschen' und den sozialen Bedingungen.
- Lombroso: Die Tendenz zur Kriminalität ist biologisch determiniert und angeboren ('geborener Verbrecher'). Sie ist in der körperlichen Konstitution des Individuums verankert.
- Tarde: Kriminelles Verhalten wird durch Nachahmung gelernt (Lerntheorie). Die Tendenz entsteht durch den Kontakt mit und die Nachahmung von anderen Kriminellen in sozialen Interaktionen.
- Beccaria: Die Tendenz zur Kriminalität ergibt sich aus einer rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung des Individuums. Sie wird beeinflusst durch die wahrgenommene Sicherheit und Härte der Strafe. Eine unzureichende oder ungerechte Strafjustiz kann die Tendenz zur Kriminalität fördern.
Glueck: Kriminelle Tendenzen und Frühreife
1. Was sind die 'kriminellen Tendenzen' für die Gluecks?
Für Sheldon und Eleanor Glueck sind 'kriminelle Tendenzen' eine individuelle Veranlagung oder Prädisposition, die sich aus einer Kombination von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren ergibt. Diese Tendenzen manifestieren sich früh im Leben und stellen eine Voraussetzung für späteres kriminelles Verhalten dar.
2. Was ist mit der Aussage der Gluecks gemeint, die sich auf den frühen Beginn der kriminellen Neigung bezieht und unter den Problemen der Verzerrung in der 'retrospektiven Konstruktion' leidet?
Die Gluecks identifizierten frühe Verhaltensweisen (z.B. Diebstahl, Schulschwänzen, Ungehorsam gegenüber Eltern, spätes Nachhausekommen, frühes Rauchen – oft als 'Statusdelikte' bezeichnet) als Indikatoren für spätere Kriminalität. Die Kritik der 'retrospektiven Konstruktion' besagt, dass diese Schlussfolgerung problematisch ist. Wenn man die Lebensläufe von bereits verurteilten Straftätern rückblickend analysiert (Retrospektive), findet man möglicherweise solche frühen Verhaltensweisen. Es ist jedoch ein Fehlschluss (Verzerrung), daraus zu folgern, dass diese Verhaltensweisen zwangsläufig zu Kriminalität führen. Viele Jugendliche zeigen solche Verhaltensweisen, ohne später kriminell zu werden. Die Daten werden quasi rückwärts interpretiert, um die spätere Kriminalität zu 'bestätigen', was zu einer verzerrten Sichtweise führt.
3. Was ist die These der 'Frühreife' der Gluecks?
Die These der 'Frühreife' (early onset) besagt, dass bestimmte Individuen bereits in der frühen Kindheit ein höheres 'Potenzial zur Kriminalität' oder eine geringere soziale Anpassungsfähigkeit aufweisen als andere. Dieses Potenzial zeige sich in problematischem Verhalten schon vor der Einschulung und werde durch spätere Erfahrungen, wie Schulversagen (das stark mit Kriminalität korreliert zu sein scheint), verstärkt. Die Weichen für eine kriminelle Karriere würden demnach sehr früh gestellt.
4. Nennen Sie mindestens zwei Faktoren, die für die Gluecks mit Verbrechen in Zusammenhang stehen.
- Körperliche Konstitution (z.B. mesomorpher Körperbau)
- Familiäre Beziehungen (z.B. mangelnde emotionale Bindung, inkonsistente Erziehung, Kriminalität der Eltern)
(Weitere wären Temperament, Intelligenz, sozioökonomischer Status etc.)
5. Für die Gluecks sind 'kriminelle Tendenzen' das Produkt von zwei Faktorengruppen. Nennen Sie diese.
- Biologische/Konstitutionelle Faktoren
- Soziale/Umweltbedingte Faktoren (insbesondere familiäre)
(Manchmal auch als biologische und psychologische Faktoren zusammengefasst, wobei psychologische Merkmale oft als Ergebnis der Interaktion von Anlage und Umwelt gesehen werden.)
6. Die kausale Erklärung der Kriminalität durch psychologische Eigenschaften ignoriert ein Paradoxon. Was ist das?
Das Paradoxon besteht darin: Wenn psychologische Merkmale (z.B. eine 'abweichende Persönlichkeit') als feste Ursache für Kriminalität angesehen werden (theoretisches A-priori-Primat der psychischen Struktur), wie kann man dann annehmen, dass diese Merkmale durch Therapie oder Erziehung korrigierbar sind? Entweder sind die Merkmale tatsächlich bestimmend und somit kaum veränderbar, oder sie sind veränderbar, dann können sie aber nicht die alleinige oder entscheidende Ursache sein, wie oft behauptet wird. Die Annahme einer festen kausalen Wirkung steht im Widerspruch zur Annahme der Korrigierbarkeit.
7. Was sind die zwei Hauptkritikpunkte, die an kausalen Theorien der Devianz geäußert werden können?
- Statische Sichtweise: Kausale Theorien basieren oft auf einer statischen Vorstellung von Identität und Persönlichkeit. Sie vernachlässigen, dass Verhalten und Identität dynamisch sind und sich im Laufe des Lebens und durch soziale Interaktionen verändern können.
- Generalisierungsproblem: Es ist fragwürdig, ob man für die vielfältigen Formen von Abweichung (von Diebstahl über Betrug bis zu Gewalttaten) dieselben Ursachen (z.B. eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur) annehmen kann. Zudem konzentrieren sich viele kausale Theorien (insbesondere ältere) auf traditionelle 'Straßenkriminalität' (Angriffe auf Personen und Eigentum), die überproportional von benachteiligten Gruppen begangen wird, und vernachlässigen andere Formen abweichenden Verhaltens (z.B. Wirtschaftskriminalität), die möglicherweise andere Ursachen haben.
Sanktionen und Routine-Aktivitäts-Theorie
1. Was ist die grundlegende Erkenntnis der Forschung von Irving Piliavin und Kollegen über die abschreckende Wirkung formeller Sanktionen im Zusammenhang mit der Begehung von Straftaten?
Die Forschung von Irving Piliavin und Kollegen legt nahe, dass die subjektive Wahrnehmung der Legitimität des Strafrechtssystems und die informellen sozialen Kosten (z.B. Verlust von Ansehen, Arbeitsplatz, Freundschaften) einer Straftat oft eine größere abschreckende Wirkung haben als die formelle Sanktion (die Strafe) selbst. Die Angst vor der Strafe allein hat oft nur ein geringes Gewicht bei der Entscheidung, eine Straftat zu begehen oder nicht, insbesondere wenn die Tat als nicht schwerwiegend oder das System als nicht legitim angesehen wird.
2. Einer der Beiträge der Piliavin-Forschung ist, dass die Wirkung der Sanktion (Strafe) von der Bedeutung des Engagements des Täters in der Welt der Abweichung abhängt. Erläutern Sie bitte kurz.
Das bedeutet, dass die abschreckende Wirkung einer Strafe für Personen, die bereits stark in kriminelle Kreise integriert sind oder wiederholt straffällig geworden sind ('Commitment to deviance'), geringer ist. Für Ersttäter oder Personen mit starken Bindungen an die konforme Gesellschaft (Job, Familie) sind die potenziellen sozialen Kosten einer Verurteilung (Stigmatisierung, Verlust) viel höher, und die Angst vor der formellen Strafe wirkt stärker. Wiederholungstäter hingegen haben oft weniger zu verlieren, haben sich möglicherweise an den Kontakt mit Kontrollinstanzen gewöhnt und die Strafe als Teil ihres Lebensstils akzeptiert, wodurch die abschreckende Wirkung abnimmt.
3. Welche Perspektive nimmt die Routine-Aktivitäts-Theorie (Routine Activity Theory) ein?
Die Routine-Aktivitäts-Theorie (von Cohen und Felson) nimmt eine bewusst pragmatische, situative Perspektive ein. Sie betrachtet Kriminalität nicht primär als Ergebnis individueller Motivation oder sozialer Pathologie, sondern als ein Ereignis, das dann wahrscheinlich wird, wenn im Rahmen alltäglicher, routinemäßiger Aktivitäten drei Bedingungen räumlich und zeitlich zusammentreffen.
4. Für Cohen und Felson sind die Bedingungen für das Zustandekommen einer Straftat drei. Nennen Sie diese.
- Ein motivierter Täter (dessen Motivation aber nicht näher erklärt wird, sondern als gegeben angenommen wird).
- Ein geeignetes Zielobjekt (z.B. eine Person, ein Wertgegenstand), das attraktiv und erreichbar ist.
- Die Abwesenheit ausreichender Schutzfaktoren oder 'Guardianship' (z.B. fehlende soziale Kontrolle durch Anwohner, mangelnde technische Sicherung, keine Polizei in der Nähe).
5. Erklären Sie die Formulierung 'Die Entwicklung der Kriminalität ist der Preis der Moderne'. Was ist Ihre Meinung dazu? Erläutern Sie Ihre Antwort.
Die Formulierung besagt, dass bestimmte Entwicklungen moderner Gesellschaften (z.B. steigender Wohlstand, veränderte Lebensstile, erhöhte Mobilität, mehr anonyme öffentliche Räume, Zunahme wertvoller, leicht transportabler Güter) unbeabsichtigt mehr Gelegenheiten für Kriminalität schaffen. Die Zunahme von Wohlstand führt zu mehr potenziellen Zielen, veränderte Arbeits- und Freizeitroutinen (z.B. mehr Single-Haushalte, mehr Menschen außer Haus) führen zu geringerer sozialer Kontrolle und Bewachung von Eigentum. In diesem Sinne ist die Zunahme bestimmter Kriminalitätsformen (insbesondere Eigentumsdelikte) eine Begleiterscheinung oder ein 'Preis' der modernen Lebensweise, die mehr Tatgelegenheiten bietet.
Eigene Meinung (Beispiel): Ich stimme dieser Perspektive teilweise zu. Die Routine-Aktivitäts-Theorie erklärt überzeugend, warum sich Kriminalitätsraten unabhängig von der Zahl potenziell motivierter Täter verändern können, nämlich durch die Veränderung von Gelegenheitsstrukturen. Moderne Gesellschaften bieten zweifellos mehr und andere Tatgelegenheiten als frühere. Allerdings erklärt die Theorie nicht die Motivation der Täter und vernachlässigt andere wichtige Faktoren wie soziale Ungleichheit oder kulturelle Werte, die ebenfalls zur Kriminalitätsentwicklung beitragen. Abweichendes Verhalten ist, wie zu Beginn diskutiert, Teil jeder Gesellschaft. Die Moderne verändert lediglich die Formen und Gelegenheiten für dieses Verhalten, schafft aber nicht die Abweichung an sich. Die Anpassungsfähigkeit abweichenden Verhaltens an neue gesellschaftliche Bedingungen ist ein zentraler Aspekt.
6. Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert dominieren zwei Ideen die strafrechtliche Reflexion. Was sind sie?
- Die Idee der Abschreckung durch exemplarische Strafen (General- und Spezialprävention).
- Die Idee der Effizienzsteigerung und Rationalisierung der Strafjustiz (schnellere Verfahren, bessere Ermittlungsmethoden).
(Je nach Kontext könnten auch Resozialisierung vs. Sicherung genannt werden.)
7. Für M. Cusson erklären zwei Mechanismen die doppelte Stabilität (im Laufe der Zeit) des gerichtlichen Verfahrens und der Höhe der Verhaftungen. Was sind sie?
Maurice Cusson argumentiert, dass das Strafrechtssystem eine Tendenz zur Selbstregulation und Stabilität aufweist. Zwei Mechanismen dafür sind:
- Anpassung der Schwerekriterien: Bei einer Zunahme von angezeigten Verstößen neigt das System dazu, die Kriterien dafür, was als 'schwerwiegend' genug für eine Weiterverfolgung gilt, anzupassen. Dies führt zu einer höheren Zahl von Verfahrenseinstellungen bei weniger gravierenden Delikten, wodurch die Belastung des Systems konstant gehalten wird.
- Anpassung der Sanktionsschwere: Die Häufigkeit, mit der bestimmte Delikte verurteilt werden, kann stabil bleiben, während gleichzeitig die durchschnittliche Schwere der dafür verhängten Strafen sinkt (oder umgekehrt). Das System passt die Strafzumessung an, um eine Überlastung (z.B. der Gefängnisse) zu vermeiden oder auf veränderte gesellschaftliche Bewertungen zu reagieren, was ebenfalls zur Stabilität der Gesamtzahlen beiträgt.
8. Was ist das Konzept der 'positiven Schande' (reintegrative shaming), geprägt von Braithwaite? Setzen Sie einen aktuellen oder historischen Beispiel.
John Braithwaite unterscheidet zwischen stigmatisierender Beschämung (stigmatizing shaming), die den Täter aus der Gemeinschaft ausschließt, und reintegrativer Beschämung ('positive Schande'). Letztere verurteilt zwar die Tat, nicht aber die Person dauerhaft. Sie drückt Missbilligung aus, bietet aber gleichzeitig Wege zur Wiedergutmachung und zur Reintegration in die Gemeinschaft an. Ziel ist es, beim Täter ein Gefühl der Verantwortlichkeit und Scham für die Tat zu wecken, ohne ihn dauerhaft zu ächten, was die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Delikte reduzieren soll.
Beispiel: Programme der restaurativen Justiz (Täter-Opfer-Ausgleich), bei denen der Täter direkt mit dem Opfer konfrontiert wird, Verantwortung übernehmen und Wiedergutmachung leisten muss, um danach wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Ein historisches Beispiel könnten öffentliche Pranger sein, sofern sie nicht zur dauerhaften sozialen Vernichtung führten, sondern eine (wenn auch harte) Form der temporären Beschämung mit anschließender Möglichkeit zur Rückkehr darstellten. Der Vorschlag von José Bono (spanischer Politiker), die Namen von Männern, die Frauen misshandeln, öffentlich zu machen, zielte auf eine Form der Beschämung ab, deren reintegrativer Charakter jedoch fraglich wäre.
9. Diskutieren Sie den Satz: 'Der langsame Ersatz der Unterdrückung durch Überredung kann nicht vom Fortschritt der Vernunft, der Demokratie und der individuellen Verantwortung getrennt werden.'
Dieser Satz (im Geiste Durkheims oder der Zivilisationstheorie von Elias) legt nahe, dass moderne, demokratische Gesellschaften tendenziell weniger auf harte, repressive Strafen (Unterdrückung) setzen und stattdessen stärker auf Mechanismen der sozialen Kontrolle bauen, die auf Einsicht, internalisierte Normen und individuelle Verantwortung setzen (Überredung, Selbstkontrolle). Dieser Wandel sei eng verbunden mit:
- Fortschritt der Vernunft: Ein besseres Verständnis sozialer Prozesse und menschlichen Verhaltens führt zu differenzierteren Reaktionen auf Abweichung.
- Demokratie: Demokratische Gesellschaften betonen individuelle Rechte und Partizipation, was tendenziell zu humaneren Strafsystemen führt.
- Individuelle Verantwortung: In modernen Gesellschaften wird dem Einzelnen mehr Autonomie, aber auch mehr Verantwortung für sein Handeln zugeschrieben. Soziale Kontrolle zielt stärker auf die Förderung dieser Selbstverantwortung.
Die Entwicklung geht also weg von rein äußerem Zwang hin zu stärker internalisierter Normbefolgung, was als Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts interpretiert wird.
10. Was sollte Ihrer Meinung nach der Zweck der Strafe sein: strafrechtliche Rehabilitation oder die Reparatur des verursachten Schadens? Erläutern Sie Ihre Antwort.
Eigene Meinung (Beispiel): Meiner Meinung nach sollte das Strafrechtssystem idealerweise mehrere Zwecke verfolgen, wobei der Schwerpunkt je nach Art des Delikts und des Täters variieren kann. Die Reparatur des Schadens (Wiedergutmachung, restorative justice) sollte einen deutlich höheren Stellenwert erhalten, als dies oft der Fall ist. Sie stellt die Bedürfnisse der Opfer in den Mittelpunkt und kann dem Täter helfen, Verantwortung zu übernehmen. Die Rehabilitation des Täters ist ebenfalls ein wichtiges Ziel, insbesondere bei jüngeren oder Ersttätern, um zukünftige Straftaten zu verhindern. Sie stößt jedoch bei bestimmten Tätergruppen (z.B. schwere Gewalttäter mit Persönlichkeitsstörungen) an Grenzen. In solchen Fällen, sowie zur Normverdeutlichung und zum Schutz der Allgemeinheit, behalten auch Abschreckung und Sicherung (ultima ratio) ihre Berechtigung. Ein rein auf Rehabilitation oder rein auf Reparation ausgerichtetes System wäre unvollständig. Wichtig ist eine Abwägung im Einzelfall, die sowohl die Opferperspektive als auch die Täterperspektive und den Schutz der Gesellschaft berücksichtigt, wobei die reine Vergeltung in den Hintergrund treten sollte.
Sutherland: Theorie der Differentiellen Assoziation
1. Nennen Sie die ersten vier Sätze der Differentiellen Assoziation von Sutherland und Cressey und diskutieren Sie diese jeweils einzeln.
Die Theorie der Differentiellen Assoziation von Edwin Sutherland (später mit Donald Cressey weiterentwickelt) basiert auf neun Sätzen. Die ersten vier sind:
- Kriminelles Verhalten wird gelernt. Diskussion: Dies ist die Grundannahme. Kriminalität ist nicht angeboren oder rein biologisch/psychologisch bedingt, sondern Ergebnis eines Lernprozesses, ähnlich wie jedes andere soziale Verhalten (z.B. Fahrradfahren, eine Sprache lernen).
- Kriminelles Verhalten wird in Interaktion mit anderen Personen in einem Kommunikationsprozess gelernt. Diskussion: Das Lernen findet durch soziale Interaktion statt, hauptsächlich durch verbale und nonverbale Kommunikation mit anderen Menschen. Es ist kein isolierter Prozess.
- Der Hauptteil des Lernens kriminellen Verhaltens findet innerhalb intimer persönlicher Gruppen statt. Diskussion: Die wichtigsten Lernprozesse erfolgen im engen sozialen Umfeld – Familie, Freundeskreis, Peergroup. Unpersönliche Einflüsse wie Medien spielen eine geringere Rolle beim Erlernen der Techniken und Motive.
- Wenn kriminelles Verhalten gelernt wird, schließt das Lernen ein: (a) Techniken zur Ausführung des Verbrechens, die manchmal kompliziert, manchmal einfach sind; (b) die spezifische Richtung von Motiven, Trieben, Rationalisierungen und Einstellungen. Diskussion: Gelernt werden nicht nur die praktischen Fähigkeiten zur Tatausführung ('Know-how', z.B. wie man ein Schloss knackt), sondern auch die Denkweisen, die das kriminelle Verhalten rechtfertigen oder motivieren ('Know-why'). Dazu gehören Rechtfertigungsstrategien ('Die Reichen haben eh zu viel Geld'), Einstellungen ('Gesetze sind nur für die anderen da') und Motive (Streben nach Anerkennung in der Gruppe).
2. Was ist Differentielle Assoziation? Was ist die Definition, die Sutherland gegeben hat?
Differentielle Assoziation ist eine soziologische Theorie zur Erklärung von Kriminalität. Sie gehört zu den Lerntheorien.
Sutherlands zentrale Idee: Kriminelles Verhalten wird gelernt, und zwar durch den Kontakt (Assoziation) mit kriminellen Definitionen, Mustern und Personen. 'Differentiell' bedeutet, dass das Ausmaß und die Art dieser Kontakte unterschiedlich sind. Eine Person wird kriminell, wenn sie einem Übergewicht an Definitionen ausgesetzt ist, die Gesetzesverletzungen begünstigen, gegenüber Definitionen, die Gesetzesverletzungen ablehnen. Es geht also um das Verhältnis (die Differenz) zwischen pro-kriminellen und anti-kriminellen Kontakten und Definitionen, denen eine Person in ihrem sozialen Umfeld begegnet.
Sutherland interessierte sich dafür, warum in Vierteln mit hoher Kriminalitätsrate nur ein Teil der Bewohner kriminell wird. Seine Antwort: Es hängt davon ab, mit wem man interagiert und welche Einstellungen zum Gesetz man dabei lernt (differentielle Assoziation).
3. Welche zwei Konsequenzen seiner Theorie sind für die Praxis ableitbar?
- Prävention durch Kontaktsteuerung: Wenn Kriminalität gelernt wird, kann man ihr vorbeugen, indem man die Bedingungen verändert, die den Kontakt mit kriminellen Definitionen begünstigen bzw. den Kontakt mit konformen Definitionen fördern. Dies könnte z.B. durch Jugendprogramme, Mentoring oder die Veränderung des sozialen Umfelds geschehen, um den Einfluss krimineller Gruppen zu reduzieren.
- Resozialisierung durch Umlernen: Straftäter können potenziell 'umgelernt' werden, indem man sie verstärkt positiven, gesetzeskonformen Definitionen und Rollenmodellen aussetzt (z.B. im Strafvollzug durch Therapie, Bildung, Kontakt zu Nicht-Kriminellen). Die Theorie impliziert, dass kriminelles Verhalten nicht schicksalhaft ist, sondern veränderbar durch neue Lernprozesse und Assoziationen.
(Anmerkung: Sutherland selbst war skeptisch gegenüber der Idee, dass Kriminelle völlig andere Werte hätten. Er glaubte eher, dass sie allgemeine Werte (z.B. Streben nach Erfolg) teilen, aber gelernt haben, diese mit illegalen Mitteln zu verfolgen und dies zu rationalisieren.)
Merton: Anomietheorie und Abweichungstypen
1. Schreiben Sie neben jedes Beispiel die Art der abweichenden Anpassungsform nach Merton:
- Die Menschen, die eine autonome Gemeinschaft bilden. → Rebellion (lehnen alte Ziele/Mittel ab und wollen neue etablieren)
- Die Rebellion der Motorrad-Gang Hells Angels in Kalifornien. → Rebellion (wenn sie alternative Ziele/Mittel verfolgen) oder evtl. Innovation (wenn primär illegale Mittel zur Zielerreichung genutzt werden)
- Der Aufstand · robacoches (Autodiebe). → Innovation (akzeptieren kulturelle Ziele wie Wohlstand, nutzen aber illegitime Mittel)
- Low-Level-Bürokraten, mit deinem ganzen Routine (mit ihrer ganzen Routine). → Ritualismus (halten an Mitteln fest, haben aber kulturelle Ziele aufgegeben)
2. Geben Sie an, welche Art von abweichender Anpassungsform nach Merton jede der folgenden Handlungen am besten erklärt:
- Ein Teenager, dessen Eltern arbeitslos sind, stiehlt ein Kleid in einem Laden. → Innovation (Ziel: modisches Kleid/Konsum; Mittel: Diebstahl statt Kauf)
- Ein Mensch, der seinen Job verloren hat und seine Familie wird Junkie Steuerhinterziehung (Ein Mensch, der Job und Familie verloren hat, wird drogensüchtig). → Rückzug (gibt sowohl Ziele als auch legitime Mittel auf)
- Ein junger Mann wird zu einem revolutionären Intellektuellen. → Rebellion (lehnt bestehende Ziele/Mittel ab, strebt nach neuen)
- Ein junger Student, der glaubt, seine Karriere ist zu nichts nütze, setzte sich im College auf Drängen der Familie und der Mangel an anderen Möglichkeiten (setzt sein Studium fort). → Ritualismus (hält am Mittel 'Studium' fest, ohne an das Ziel 'Karriere' zu glauben)
3. Ein Mitarbeiter einer Bank hat eine schwere Schuld zu bezahlen, aber kein Geld. Dann entscheidet er, die Bank zu betrügen, in der Hoffnung, das Geld zurückzugeben, bevor es bemerkt wird. Welches Konzept erklärt ihr Verhalten am besten? (Soziale Desorganisation, Differentielle Assoziation oder Innovation).
Innovation (im Sinne von Merton). Der Mitarbeiter akzeptiert das kulturelle Ziel (Schuldenfreiheit, finanzieller Erfolg), aber da ihm die legitimen Mittel fehlen, wählt er ein illegitimes Mittel (Betrug).
4. Schreiben Sie neben die angeführten Beispiele die passende Theorie der Devianz: Soziale Desorganisation, Differentielle Assoziation, Anomie, Labeling.
- Eine hohe Scheidungsrate. → Soziale Desorganisation (als Indikator für geschwächte soziale Bindungen/Institutionen)
- Eine Gruppe arbeitsloser junger Männer aus einem großen Slum organisiert eine Autodiebesbande. → Anomie (Innovation als Reaktion auf blockierte legitime Mittel) / Differentielle Assoziation (Lernen krimineller Techniken/Motive in der Gruppe) / Subkulturtheorie
- Ein Junge wird weibisch Homosexuellen durch die Reaktionen anderer vor ihm (Ein Junge wird aufgrund der Reaktionen anderer als homosexuell etikettiert und übernimmt diese Rolle). → Labeling (sekundäre Devianz durch Zuschreibung)
- Ein junger Täter wird 'gehärtet' durch seinen Aufenthalt im Gefängnis. → Differentielle Assoziation (Lernen krimineller Einstellungen/Techniken im Gefängnis) / Labeling (Verfestigung der kriminellen Identität durch Stigmatisierung)
Abweichende Subkulturen: Cohen, Cloward & Ohlin
1. Die Studie der Jugendkriminalität von Cohen in 'Delinquent Boys' beruht auf drei Prinzipien. Nennen Sie diese.
Albert K. Cohens Studie basiert auf folgenden Prinzipien:
- Die Bedeutung, die abweichende Handlungen im Verlauf der Interaktion erhalten.
- Die Handlung wird unterschiedlich bewertet, je nach den Vorstellungen, die Mitglieder einer sozialen Gruppe über das Vergehen, die Person und die Ausführung haben (soziale Definition).
- Diese Vorstellungen entwickeln sich im Rahmen von 'Subkulturen', die als Reaktion auf spezifische Probleme oder Einschränkungen entstehen, welche die soziale Ordnung diesen Gruppen auferlegt (insbesondere Statusprobleme für Jugendliche der Unterschicht).
2. Was sind die Eigenschaften, die für Cohen die Einstellungen bestimmen, die zur kriminellen Subkultur führen?
Cohen beschreibt die delinquente Subkultur (insbesondere von männlichen Jugendlichen der Arbeiterklasse) durch folgende Merkmale:
- Nicht-utilitaristischer Charakter: Straftaten werden oft nicht aus materiellem Nutzen begangen, sondern zum Spaß, zur Erregung oder aus Bosheit.
- Boshaftigkeit (Malice): Freude daran, soziale Tabus zu brechen und konventionelle Werte zu missachten.
- Negativismus: Eine Umkehrung der Normen der Mittelklasse; was als 'gut' gilt, wird abgelehnt, was als 'schlecht' gilt, wird positiv bewertet.
- Vielseitigkeit (Versatility): Keine Spezialisierung auf bestimmte Delikte, sondern eine breite Palette von Straftaten und abweichendem Verhalten.
- Kurzfristiger Hedonismus: Orientierung an sofortiger Befriedigung und wenig Planung für die Zukunft.
- Gruppenautonomie: Starke Loyalität zur eigenen Gruppe (Gang) und Widerstand gegen äußere Kontrollinstanzen (Familie, Schule, Polizei).
3. Welches neue Konzept führten Cloward und Ohlin in die Anomietheorie Mertons ein? Erklären Sie kurz, was die 'Struktur der illegitimen Gelegenheiten' bedeutet.
Richard Cloward und Lloyd Ohlin führten das Konzept der 'Struktur der illegitimen Gelegenheiten' (structure of illegitimate opportunities) ein.
Sie argumentierten, dass es für abweichendes Verhalten nicht ausreicht, dass legitime Mittel zur Zielerreichung blockiert sind (wie Merton annahm). Zusätzlich muss auch Zugang zu illegitimen Mitteln und Gelegenheiten bestehen. Nicht jeder, der kriminell werden will, hat auch die Möglichkeit dazu. Diese Möglichkeiten sind ebenfalls sozial strukturiert und ungleich verteilt. Man braucht z.B. Kontakte zu kriminellen Netzwerken, Wissen über Techniken oder Zugang zu Hehlermärkten. Die Art der verfügbaren illegitimen Gelegenheiten beeinflusst die Form der entstehenden delinquenten Subkultur.
4. Cloward und Ohlin unterschieden im Gegensatz zu Cohens eher einheitlicher Subkultur drei verschiedene Typen von Subkulturen. Was sind sie?
- Kriminelle Subkultur (Criminal Subculture): Entsteht in stabilen Vierteln mit etablierter organisierter Kriminalität. Jugendliche lernen von älteren Kriminellen und können in der Hierarchie aufsteigen (z.B. durch Eigentumsdelikte).
- Konflikt-Subkultur (Conflict Subculture): Entsteht in desorganisierten Vierteln ohne stabile kriminelle Strukturen. Status wird durch Gewalt, Bandenkämpfe und Zerstörung erlangt.
- Rückzugs-Subkultur (Retreatist Subculture): Besteht aus Individuen, die weder in der legitimen noch in der illegitimen Welt erfolgreich sind ('doppelte Versager'). Sie ziehen sich zurück, oft in Drogenkonsum.
5. Was charakterisiert die Gewalt, die Cloward und Ohlin der Konflikt-Subkultur zuschreiben?
Die Gewalt in der Konflikt-Subkultur ist nach Cloward und Ohlin primär ein Mittel, um Status und Anerkennung ('Reputation') in einer Umgebung zu erlangen, in der weder legitime noch stabile illegitime (kriminelle) Erfolgswege offenstehen. Sie ist oft expressiv, dient der Verteidigung des Territoriums ('Turf') und der Demonstration von Mut und Härte gegenüber rivalisierenden Gangs. Diese Subkultur entsteht in sozial desorganisierten Gebieten mit schwachen sozialen Bindungen und mangelnder Kontrolle, wo Gewalt zum zentralen Organisationsprinzip der Jugendgruppen wird.
6. Erklären Sie kurz den 'doppelten Fehler' ('double failure'), den Cloward und Ohlin der Rückzugs-Subkultur zuschreiben, deren Paradebeispiel für sie die Sucht ist.
Der 'doppelte Fehler' beschreibt Individuen, die sowohl bei dem Versuch, Erfolg durch legitime Mittel (z.B. Schule, Arbeit) zu erreichen, als auch bei dem Versuch, Erfolg durch illegitime Mittel (z.B. organisierte Kriminalität, Bandengewalt) zu erlangen, scheitern. Sie können oder wollen sich weder an die konventionellen Normen anpassen noch finden sie Zugang oder Erfolg in kriminellen oder Konflikt-Subkulturen. Als Reaktion auf dieses doppelte Scheitern ziehen sie sich aus beiden Welten zurück, oft in Form von Drogen- oder Alkoholsucht, und bilden eine eigene Subkultur des Rückzugs.
7. Aus heutiger Sicht sollte der Begriff des 'doppelten Fehlers' auf eine größere Gruppe von Personen ausgedehnt werden als nur auf Drogenabhängige. Nennen Sie einige Beispiele, die gegenwärtig in unseren Gesellschaften als Folge der Notlage bestehen.
Der Begriff könnte heute auch angewendet werden auf:
- Langzeitarbeitslose, die weder im regulären Arbeitsmarkt Fuß fassen noch in der Schattenwirtschaft oder Kriminalität erfolgreich sind.
- Bestimmte Gruppen von Obdachlosen, die aus dem sozialen Netz gefallen sind und keine stabilen legalen oder illegalen Einkommensquellen haben.
- Sozial isolierte oder marginalisierte Personen (z.B. psychisch Kranke ohne adäquate Unterstützung), die weder gesellschaftliche Anerkennung finden noch in abweichenden Gruppen integriert sind.
- Jugendliche in prekären Verhältnissen, die schulisch scheitern und gleichzeitig keinen Anschluss an etablierte delinquente Strukturen finden.
8. Was ist der grundlegende Beitrag von Cloward und Ohlin zu den umfassenden Theorien der Abweichung?
Ihr grundlegender Beitrag ist die Betonung der Verfügbarkeit und Struktur von illegitimen Gelegenheiten. Sie erweiterten Mertons Anomietheorie, indem sie zeigten, dass nicht nur der Mangel an legitimen Mitteln, sondern auch der differenzierte Zugang zu illegitimen Mitteln entscheidend dafür ist, welche Art von abweichendem Verhalten entsteht. Damit lenkten sie den Blick auf die soziale Organisation von Kriminalität und die unterschiedlichen 'Karrierewege' innerhalb der Welt der Abweichung.
Labeling-Ansatz: Lemert, Becker, Goffman
1. Definieren Sie Status und Rolle.
- Status: Eine sozial definierte Position in einer Gruppe oder Gesellschaft, mit der bestimmte Rechte und Pflichten verbunden sind (z.B. Mutter, Lehrer, Arzt). Status kann zugeschrieben (z.B. Geschlecht, Alter) oder erworben (z.B. Beruf, Bildungsabschluss) sein.
- Rolle: Das erwartete Verhalten, das mit einem bestimmten Status verbunden ist. Es umfasst die Normen und Erwartungen, wie sich eine Person in einer bestimmten Position verhalten soll (z.B. die Rolle des Lehrers beinhaltet Unterrichten, Bewerten, Disziplinieren).
2. Welche der folgenden Praktiken sind Status und welche Rollen? a) Fußball spielen. b) Rechtsanwalt c) medizinische Ausrüstung. d) Ein Kind disziplinieren. e) Zur Kirche gehen. f) Priester. g) Minister. h) Ein Kind impfen.
- a) Fußball spielen: Rolle (Verhalten)
- b) Rechtsanwalt: Status (Position)
- c) medizinische Ausrüstung: Weder Status noch Rolle (Objekt)
- d) Ein Kind disziplinieren: Rolle (Verhalten, z.B. als Elternteil)
- e) Zur Kirche gehen: Rolle (Verhalten, z.B. als Gläubiger)
- f) Priester: Status (Position)
- g) Minister: Status (Position)
- h) Ein Kind impfen: Rolle (Verhalten, z.B. als Arzt oder Elternteil)
3. Welche der beiden Reihen sozialer Positionen würden Soziologen des Labeling-Ansatzes bevorzugt studieren und warum? A) Vorarbeiter, Maler, Installateur, Unternehmer, Besitzer. B) Schauspieler, Klient, Kunstkritiker, Gärtner.
Soziologen des Labeling-Ansatzes würden tendenziell eher Reihe B) Schauspieler, Klient, Kunstkritiker, Gärtner bevorzugt studieren.
Warum? Der Labeling-Ansatz interessiert sich besonders für Situationen, in denen Status und Rollen weniger klar definiert, stärker interpretativ und aushandlungsbedürftig sind. Die Positionen in Reihe B sind oft mit weniger festgeschriebenen Verhaltenserwartungen verbunden als die eher technisch-funktionalen Berufe in Reihe A. Bei Schauspielern, Klienten oder Kunstkritikern spielen soziale Zuschreibungen, Interpretationen von Verhalten und die Aushandlung von Identitäten eine größere Rolle. Die Definition dessen, was ein 'guter Schauspieler' oder ein 'kompetenter Kritiker' ist, ist stärker sozial konstruiert und anfälliger für Etikettierungsprozesse als die Definition eines 'Installateurs'.
4. Was ist der Beitrag von E. Lemert zur Soziologie der Abweichung?
Edwin Lemerts Hauptbeitrag ist die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Abweichung. Er betonte, dass nicht die ursprüngliche Regelverletzung (primäre Abweichung) entscheidend für die Entwicklung einer abweichenden Identität ist, sondern die soziale Reaktion darauf. Die Etikettierung durch Kontrollinstanzen kann dazu führen, dass die Person sich selbst als abweichend wahrnimmt und ihr Verhalten entsprechend organisiert (sekundäre Abweichung).
5. Definieren Sie primäre und sekundäre Abweichung nach E. Lemert.
- Primäre Abweichung: Die ursprüngliche, oft situative oder zufällige Verletzung von sozialen oder rechtlichen Normen. Sie hat noch keine oder nur geringe Auswirkungen auf das Selbstbild der Person und ihre soziale Identität (z.B. das einmalige Überfahren einer roten Ampel, ein Jugendlicher, der aus Neugier Drogen probiert).
- Sekundäre Abweichung: Abweichendes Verhalten, das als Reaktion auf die sozialen Reaktionen (Stigmatisierung, Sanktionierung, Etikettierung) auf die primäre Abweichung entsteht. Die Person beginnt, sich mit der zugeschriebenen abweichenden Rolle zu identifizieren, organisiert ihr Leben um diese Rolle herum und entwickelt eine abweichende Identität (z.B. der Verkehrssünder, der nach wiederholten Strafen und dem Führerscheinentzug beginnt, sich als 'Rebell' gegen das System zu sehen; der Jugendliche, der nach einer Verhaftung wegen Drogenkonsums in die Drogenszene abrutscht).
6. Was ist Abweichung für H. Becker? Was ist sein Hauptwerk in der Soziologie der Devianz?
Für Howard S. Becker ist Abweichung keine Eigenschaft einer Handlung selbst, sondern das Ergebnis eines sozialen Zuschreibungsprozesses. Abweichend ist das Verhalten, das von anderen erfolgreich als solches etikettiert wird. Sein berühmter Satz lautet: "Soziale Gruppen schaffen Abweichung, indem sie Regeln aufstellen, deren Verletzung Abweichung konstituiert, und indem sie diese Regeln auf bestimmte Personen anwenden und sie als Außenseiter etikettieren."
Sein Hauptwerk in diesem Bereich ist 'Outsiders: Studies in the Sociology of Deviance' (1963).
7. Listen Sie die vier Prinzipien des sequentiellen Modells der Erklärung abweichenden Verhaltens für H. Becker auf.
Becker beschreibt die Entwicklung einer abweichenden Karriere als einen sequentiellen Prozess:
- Die Tat begehen: Die ursprüngliche (oft primäre) abweichende Handlung.
- Als abweichend entdeckt und etikettiert werden: Die soziale Reaktion und Zuschreibung des Labels 'abweichend'.
- Entwicklung einer abweichenden Identität: Die Person beginnt, sich selbst im Licht des Labels zu sehen und die Rolle anzunehmen (Übergang zur sekundären Abweichung).
- Eintritt in eine organisierte abweichende Gruppe/Subkultur: Die Person sucht Kontakt zu anderen, die ähnlich etikettiert wurden, lernt die Normen und Rechtfertigungen der Subkultur und stabilisiert ihre abweichende Karriere.
(Anmerkung: Die Formulierung im Originaltext ist leicht abweichend, die hier genannten Punkte fassen Beckers Modell gängiger zusammen.)
8. Was ist das Paradox im Allgemeinen, das sich aus Theorien der Kennzeichnung (Labeling) ergibt?
Das zentrale Paradox des Labeling-Ansatzes ist: Soziale Kontrolle verursacht Abweichung. Das heißt, gerade die Instanzen, die Abweichung verhindern oder kontrollieren sollen (z.B. Polizei, Justiz, Psychiatrie), tragen durch ihre Definitionsmacht und ihre Reaktionen (Etikettierung, Stigmatisierung) dazu bei, Abweichung erst zu schaffen, zu verfestigen und abweichende Karrieren zu fördern. Die Reaktion auf die (primäre) Abweichung führt zur (sekundären) Abweichung.
9. Verweisen Sie auf die Arbeiten von Goffman.
Erving Goffman hat bedeutende Beiträge zur Soziologie der Abweichung und der sozialen Interaktion geleistet, insbesondere mit Werken wie:
- 'The Presentation of Self in Everyday Life' (Wir alle spielen Theater): Analyse der Selbstdarstellung in sozialen Interaktionen.
- 'Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity' (Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität): Analyse, wie Menschen mit sozial diskreditierenden Merkmalen (Stigmata) umgehen.
- 'Asylums: Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates' (Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen): Untersuchung totaler Institutionen (wie Psychiatrien, Gefängnisse) und ihrer Auswirkungen auf die Identität der Insassen.
- Weitere relevante Konzepte: Rollendistanz, Interaktionsritual.
10. Definieren Sie Stigmatisierung nach Goffman.
Für Goffman ist Stigmatisierung der Prozess, durch den eine Person aufgrund eines bestimmten Merkmals (Attribut) als von der Norm abweichend und sozial unerwünscht eingestuft wird. Das Stigma ist ein 'diskreditierendes' Attribut (z.B. eine körperliche Deformation, ein Charakterfehler wie Sucht, ein Stammesmerkmal wie Ethnie oder Religion), das die Identität der Person 'beschädigt' und ihre soziale Akzeptanz reduziert. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen der 'virtuellen sozialen Identität' (den Erwartungen, die wir an eine Person haben) und der 'aktuellen sozialen Identität' (der Person mit dem Stigma). Stigmatisierung ist eine besondere Art der Beziehung zwischen Attribut und Stereotyp.
11. Was ist für Soziologen eine 'Status-Degradierungs-Zeremonie'?
Eine 'Status-Degradierungs-Zeremonie' (Begriff von Harold Garfinkel, oft im Kontext des Labeling-Ansatzes verwendet) ist ein öffentlicher ritueller Prozess, durch den die soziale Identität und der Status einer Person offiziell herabgesetzt und als abweichend markiert werden. Beispiele sind Gerichtsverhandlungen, öffentliche Anklagen oder auch unehrenhafte Entlassungen. Ziel dieser Zeremonien ist es, die Person symbolisch aus der Gemeinschaft der 'Normalen' auszustoßen und ihr einen neuen, niedrigeren, abweichenden Status zuzuweisen. Die Person wird öffentlich als 'nicht mehr dazugehörig' oder 'anders' definiert.
12. Welche Arbeit von Goffman untersucht das Verhalten von Individuen in totalen Institutionen?
'Asylums: Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates' (deutsch: 'Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen').