Straffreiheit in Venezuela: Rechtfertigungsgründe nach Art. 65 StGB
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Ausschluss der Strafbarkeit nach venezolanischem Recht
Auch wenn eine Person einer anderen Person Schaden zufügt, kann sie unter bestimmten, gesetzlich geregelten Umständen von der strafrechtlichen Verantwortung befreit sein. Diese Gründe schließen die Rechtswidrigkeit der Tat oder die Schuld des Täters aus.
Gründe für den Ausschluss der Strafbarkeit
Gemäß Artikel 65 des venezolanischen Strafgesetzbuches (Código Penal - StGB) kommen insbesondere folgende Gründe in Betracht:
- Notwehr (Art. 65 Nr. 3)
- Putativnotwehr (Art. 65 vorletzter Absatz)
- Rechtfertigender Notstand (Art. 65 letzter Absatz)
- Handeln in Ausübung eines Rechts, Amtes oder Berufs (Art. 65 Nr. 1)
- Handeln aufgrund rechtmäßigen Gehorsams (Art. 65 Nr. 1)
- Handeln in Erfüllung einer Rechtspflicht
Notwehr (Art. 65 Nr. 3 StGB)
Eine Person handelt in Notwehr, wenn sie Opfer eines rechtswidrigen Angriffs wird und diesen abwehrt, um sich oder einen Dritten zu schützen. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit entfällt, wenn die folgenden Voraussetzungen gemäß Art. 65 Nr. 3 StGB erfüllt sind:
Rechtswidriger Angriff: Es muss ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff auf die körperliche Unversehrtheit oder andere rechtlich geschützte Güter des Opfers oder eines Dritten vorliegen.
Beispiel: Pedro versucht, Juan das Handy zu entreißen und bedroht ihn dabei mit einer Schusswaffe. Pedro begeht damit einen rechtswidrigen Angriff (versuchter Raub).
Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Verteidigung: Die Verteidigungshandlung muss erforderlich sein, um den Angriff abzuwehren. Das eingesetzte Mittel muss in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Angriffs stehen.
Beispiel: Pedro will Juan das Handy rauben und bedroht ihn mit einer Pistole. Juan zieht seinerseits eine Pistole und schießt auf Pedro, was zu dessen Tod führt. Die Anwendung der Schusswaffe durch Juan (Opfer) kann als verhältnismäßig zum Angriff durch Pedro (Angreifer mit Pistole) angesehen werden.
Keine Provokation durch das Opfer: Das Opfer darf den Angriff nicht schuldhaft provoziert haben. Provokation kann beispielsweise durch Beleidigung oder grundloses Anstiften erfolgen.
Beispiel: Pedro bedroht Juan mit einer Waffe, um dessen Handy zu stehlen. Juan hat Pedro zuvor in keiner Weise provoziert (weder bedroht, verleumdet, verletzt etc.). Wenn Juan in dieser Situation auf Pedro schießt und ihn tötet, könnte Notwehr vorliegen, da keine Provokation seitens Juan erfolgte.
Wichtiger Hinweis: Notwehr wird in Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft oder der Verteidigung geltend gemacht. Sie dient primär dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit oder des Lebens, nicht ausschließlich dem Schutz von Eigentum. Notwehrrechtfertigungen gelten für Zivilpersonen ebenso wie für Militär- und Polizeipersonal.
Putativnotwehr (Art. 65 vorletzter Absatz StGB)
Dies betrifft Fälle, in denen eine Person irrtümlich annimmt, sie befinde sich in einer Notwehrsituation und füge deshalb einer anderen Person Schaden zu. Die Person handelt im Glauben, sich gegen einen vermeintlichen Angriff verteidigen zu müssen, oft ausgelöst durch Angst, Schrecken oder Unsicherheit.
- Furcht: Die Person fürchtet irrtümlich, von einer anderen Person angegriffen zu werden.
- Schrecken (Terror): Die Person gerät in Panik und fühlt sich von einer anderen Person massiv bedroht.
- Unsicherheit: Die Person ist im Zweifel darüber, ob das Verhalten der anderen Person eine Bedrohung darstellt oder nicht.
Eine Person kann von strafrechtlicher Verantwortung befreit sein, wenn sie aufgrund eines solchen Irrtums handelt, sofern die Voraussetzungen des Art. 65 vorletzter Absatz StGB erfüllt sind.
Rechtsgrundlage: Art. 65 vorletzter Absatz des venezolanischen Strafgesetzbuches.
Beispiel: Maria Rodriguez verlässt um 23:00 Uhr die Universität und findet kein Taxi. Sie beschließt, zu Fuß durch ein als gefährlich bekanntes Viertel zu gehen. Die Straßen sind schlecht beleuchtet. Plötzlich tritt ein Mann mit einem länglichen Gegenstand in der Hand aus dem Dunkeln hervor. Aufgrund der Dunkelheit kann Maria den Gegenstand nicht erkennen. Sie gerät in Furcht, da die Gegend gefährlich ist und der Mann auf sie zukommt. Ihre Furcht steigert sich zu Panik (Schrecken), da sie allein ist. In völliger Unsicherheit darüber, was der Mann in der Hand hält (sie vermutet eine Waffe), zieht Maria, eine Polizistin außer Dienst, ihre Dienstwaffe und schießt achtmal auf den Mann, der daraufhin stirbt. Später stellt sich heraus, dass der Mann nur einen Besenstiel in der Hand hielt. Maria könnte gemäß Art. 65 vorletzter Absatz von strafrechtlicher Haftung befreit sein, da sie in Furcht, Schrecken und Unsicherheit handelte und irrtümlich einen Angriff annahm.
Die Rechtsprechung betont, dass alle Voraussetzungen dieses Artikels erfüllt sein müssen, um eine Straffreiheit zu begründen. Viele Autoren bezeichnen diese Konstellation als Putativnotwehr, da die handelnde Person irrtümlich annimmt, die andere Person trage eine Waffe oder stelle eine Gefahr dar. Verwechslungen mit Waffenattrappen oder ähnlich aussehenden Gegenständen sind häufig.
Weiteres Beispiel: Pedro Rodriguez steht an der Kasse einer Bäckerei. Plötzlich stürmt Carlos Perez mit einer Spielzeugpistole herein und fordert das Geld aus der Kasse. Pedro, der glaubt, es handle sich um eine echte Waffe, reagiert sofort, greift zu einer abgesägten Schrotflinte und schießt Carlos in den Kopf, was zu dessen Tod führt.
Rechtfertigender Notstand (Art. 65 letzter Absatz StGB)
Eine Person fügt einer anderen Person Schaden zu, um ein eigenes Rechtsgut oder das eines Dritten (z.B. Familie) aus einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten. Für die Straffreiheit müssen drei wesentliche Elemente gegeben sein:
- Gegenwärtige, ernste Gefahr: Es muss eine unmittelbare, erhebliche Gefahr für ein Rechtsgut (z.B. Leben, körperliche Unversehrtheit) bestehen.
- Keine Verursachung der Gefahr durch den Handelnden: Die Person, die zur Rettung handelt, darf die Gefahr nicht selbst vorsätzlich oder fahrlässig verursacht haben.
- Nicht anders abwendbare Gefahr (Subsidiarität): Es darf keine andere Möglichkeit geben, die Gefahr abzuwenden, als durch die schädigende Handlung. Das zu rettende Rechtsgut muss zudem wesentlich schwerer wiegen als das beeinträchtigte Gut.
Rechtsgrundlage: Art. 65 letzter Absatz StGB.
Beispiel: Pedro reist mit seiner Frau Maria auf einer Fähre nach Margarita. Plötzlich gerät die Fähre durch hohe Wellen in Seenot und sinkt. Es gibt nur einen Rettungsring, den Pedro ergreifen kann. Keine weitere Hilfe ist in Sicht. Beide drohen zu ertrinken. Um sich selbst zu retten, stößt Pedro Maria vom Rettungsring weg, wodurch sie ertrinkt. Pedro wird gerettet. In diesem Fall könnte Pedro wegen Notstands von strafrechtlicher Haftung befreit sein, da die Voraussetzungen des Art. 65 letzter Absatz erfüllt sein könnten: 1. Pedro war in ernster, gegenwärtiger Lebensgefahr (Ertrinken). 2. Er hat die Gefahr (Seenot durch Wellen) nicht verursacht. 3. Es gab keine andere Möglichkeit zur Rettung seines Lebens, als Maria den Rettungsring zu nehmen.
Handeln aufgrund von Beruf, Amt oder Gewerbe (Art. 65 Nr. 1 StGB)
Eine Person kann von strafrechtlicher Verantwortung befreit sein, wenn sie im Rahmen der rechtmäßigen Ausübung ihres Berufs, Amtes oder Gewerbes handelt und dabei die geltenden Regeln und Vorschriften beachtet.
- Beruf: Tätigkeit, die typischerweise eine höhere Ausbildung erfordert.
- Gewerbe (Handwerk): Tätigkeit, die auf erlernten Fähigkeiten basiert, oft ohne Hochschulabschluss.
- Amt: Position in einer öffentlichen Einrichtung mit entsprechenden Befugnissen.
Rechtsgrundlage: Art. 65 Nr. 1 StGB.
Beispiel Boxer: Ein Boxer schlägt seinen Gegner während eines Kampfes heftig und verursacht schwere Gesichtsverletzungen. Der Boxer ist von strafrechtlicher Verantwortung befreit, da er im Rahmen der Regeln des Boxsports gehandelt hat.
Beispiel Polizist: Der Stadtpolizist Pedro nimmt Carlos fest, der verdächtigt wird, an einem Bankraub beteiligt gewesen zu sein. Carlos wird für 10 Stunden zur Untersuchung festgehalten und dann freigelassen, da sich der Verdacht nicht erhärtet. Carlos behauptet, er sei rechtswidrig seiner Freiheit beraubt worden. Pedro ist jedoch von strafrechtlicher Verantwortung befreit, da er als Amtsträger handelte und die Person im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften (z.B. maximale Festhaltedauer zur Ermittlung gemäß Strafprozessordnung, vgl. Art. 113 COPP) zur Untersuchung festhielt.
Auch Richter, die im Rahmen eines ordnungsgemäßen Verfahrens eine Freiheitsstrafe verhängen, handeln rechtmäßig und sind straffrei.
Beispiel Arzt: Ein Arzt behandelt einen Notfallpatienten nach einem Verkehrsunfall mit schweren Beinverletzungen. Der Arzt steht vor der Wahl: Entweder das Bein nicht amputieren und den Patienten möglicherweise sterben lassen, oder das Bein amputieren und das Leben retten, ohne die Zustimmung der Familie einholen zu können. Er wählt die Amputation, um das Leben zu retten. Der Arzt ist von strafrechtlicher Verantwortung befreit, da er in Erfüllung seiner ärztlichen Pflicht (Leben retten) handelte, gemäß Art. 65 Nr. 1 StGB.
Handeln aufgrund rechtmäßigen Gehorsams (Art. 65 Nr. 1 StGB)
Eine Person handelt auf Befehl eines Vorgesetzten und verletzt dabei Rechte Dritter. Dieser Rechtfertigungsgrund gilt insbesondere für Militär- und Polizeipersonal, die einer Gehorsamspflicht unterliegen. Der Gehorsam muss jedoch „rechtmäßig“ sein.
Die Person, die einen Befehl ausführt, muss sicherstellen, dass dieser rechtmäßig ist (z.B. bei einer Festnahme muss ein Haftbefehl oder ein gesetzlicher Grund vorliegen). Handelt die Person auf einen rechtmäßigen Befehl hin, ist sie gemäß Art. 65 Nr. 1 StGB straffrei.
Wichtige Einschränkung durch die Verfassung: Art. 65 Nr. 1 StGB findet seine Grenze in der Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela von 1999. Befehle, die offensichtlich rechtswidrig sind oder Menschenrechtsverletzungen beinhalten (z.B. Folter, rechtswidrige Freiheitsberaubung, Tötung), dürfen nicht befolgt werden. Sowohl der Befehlsgeber als auch der Ausführende machen sich strafbar, wenn ein solcher rechtswidriger Befehl ausgeführt wird. Der Gehorsam gegenüber einem offensichtlich rechtswidrigen Befehl ist niemals „rechtmäßig“.
Beispiel (hypothetisch, illustriert die Grenze): Der Präsident der Republik befiehlt einem Militärangehörigen, eine Person ohne Rechtsgrundlage festzunehmen und auf die Insel Orchila zu verbringen. Der Militärangehörige führt den Befehl aus und beruft sich auf Befehlsnotstand. Diese Verteidigung greift hier nicht, da der Befehl offensichtlich rechtswidrig war (Verstoß gegen die Freiheit ohne gesetzliche Grundlage). Gemäß der Verfassung wären sowohl der Präsident (Befehlsgeber) als auch der Militärangehörige (Ausführender) strafrechtlich verantwortlich.
Handeln in Erfüllung einer Rechtspflicht
Jeder Bürger, insbesondere aber Militär- und Polizeipersonal, ist gesetzlich verpflichtet, Personen in bestimmten Notlagen Hilfe zu leisten. Dazu gehört die Hilfe für:
- Verlassene oder orientierungslose Kinder
- Geistig verwirrte Personen
- Personen, die einen Unfall erlitten haben und Hilfe benötigen
Das Strafgesetzbuch sieht Strafen (Geldstrafe oder Arrest) für die Unterlassung dieser Hilfeleistung vor (vgl. einschlägige Artikel des StGB zur unterlassenen Hilfeleistung).
Beispiel: Maria Perez findet um 23:30 Uhr an einer Kreuzung ein allein umherirrendes, orientierungsloses Kind. Sie nimmt das Kind mit nach Hause, um ihm zu helfen. Am nächsten Tag bringt sie es zur zuständigen Behörde. Dort erscheint die Mutter und beschuldigt Maria der Entführung. Maria kann sich darauf berufen, dass sie in Erfüllung ihrer gesetzlichen Hilfspflicht gehandelt hat, da das Kind offensichtlich Hilfe benötigte und sie andernfalls selbst bestraft worden wäre. Maria wäre somit von strafrechtlicher Verantwortung befreit.