Umfassende Neurologische Untersuchung: Leitfaden für Befunde und Diagnostik

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1. Mentaler Zustand

Die Beurteilung des mentalen Zustands ist ein zentraler Bestandteil der neurologischen Untersuchung. Hierbei werden verschiedene Bewusstseinsgrade unterschieden:

a) Normalzustand

Der Patient ist wach (alert), gibt adäquate Antworten und ist zeitlich sowie räumlich orientiert.

b) Obtundation (Benommenheit)

Ein geringerer Grad der Bewusstseinsstörung, bei dem der Patient zwar wachsam ist, aber Schwierigkeiten bei der räumlich-zeitlichen Orientierung hat. Es können Verwirrungszustände, Delirium und Störungen der Ideenbildung auftreten.

c) Somnolenz (Schläfrigkeit)

Gekennzeichnet durch verminderte Aufmerksamkeit, erhöhte Schlafneigung und Störungen der Formatio reticularis (oberflächlich, mittel, tief).

d) Koma

Eine schwere Bewusstseinsstörung mit tiefgreifender Veränderung der Formatio reticularis und Bewusstlosigkeit.

2. Sprachfunktion

Die Sprachfunktion umfasst die Verarbeitung im Gehirn (z.B. in den Hirnhemisphären), das Sprachverständnis, die Formulierung von Botschaften sowie die Artikulation von Worten durch die Sprechorgane.

Aphasie (Sprachstörung)

Eine Aphasie ist eine erworbene Sprachstörung, die verschiedene Formen annehmen kann:

  • Motorische Aphasie (Broca-Aphasie): Betrifft den Wortausdruck, oft bei Läsionen der 3. Stirnwindung (Broca-Areal).
  • Sensorische Aphasie (Wernicke-Aphasie): Patienten verstehen Worte nicht (beeinträchtigtes Sprachverständnis). Läsionen befinden sich typischerweise im temporo-parietalen Bereich (Wernicke-Areal).
  • Globale Aphasie: Umfassende Beeinträchtigung des Sprachverständnisses und des Ausdrucks, oft durch ausgedehnte temporoparietale Läsionen verursacht.
  • Amnestische Aphasie (Nominationsaphasie): Schwierigkeiten beim Benennen von Objekten (Wortfindungsstörungen), oft assoziiert mit Läsionen im temporoparietalen Bereich.

Dysarthrie (Sprechstörung)

Schwierigkeiten bei der Artikulation von Worten aufgrund von Störungen der Sprechorgane (Lippen, Zunge, Gaumen, Kehlkopf). Die Sprachproduktion ist zwar erhalten, aber verzerrt. Ursachen können Läsionen des extrapyramidalen Systems (z.B. bei Parkinson-Krankheit, hepatolentikulärer Degeneration), Stammhirn-Enzephalopathien, Kleinhirnerkrankungen oder Muskelerkrankungen sein.

3. Hirnnerven

Nervus olfactorius (I) – Geruchsnerv

Verantwortlich für den Geruchssinn. Ursprung im Riechkolben, Austritt durch die Lamina cribrosa des Siebbeins.

Nervus opticus (II) – Sehnerv

Beurteilung durch augenärztliche Untersuchung, Funduskopie, Prüfung der Sehschärfe und des Gesichtsfeldes. Eintritt ins Gehirn über das Chiasma opticum, Austritt aus dem Schädel durch den Canalis opticus.

Nervus oculomotorius (III), Nervus trochlearis (IV), Nervus abducens (VI) – Augenmuskelnerven

Diese Nerven innervieren die äußeren Augenmuskeln, die die Augenbewegungen steuern:

  • Nervus oculomotorius (III): Innerviert M. rectus superior, inferior, medialis und M. obliquus inferior.
  • Nervus trochlearis (IV): Innerviert M. obliquus superior.
  • Nervus abducens (VI): Innerviert M. rectus lateralis.

Diplopie: Das Sehen von Doppelbildern. Störungen der konjugierten Augenbewegungen können auf Läsionen hinweisen:

  • Laterale Blickparese: Schwierigkeiten bei der Bewegung beider Augen zur Seite (kortikale Läsion, innere Kapsel oder Pons).
  • Vertikale Blickparese: Z.B. beim Parinaud-Syndrom (Läsion des Mittelhirns).

Pupillenreaktionen:

  • Mydriasis (Pupillenerweiterung): Kann auf eine Läsion des N. oculomotorius (III) hinweisen.
  • Miosis (Pupillenverengung): Kann durch eine Schädigung des Halssympathikus verursacht werden (z.B. Horner-Syndrom).
  • Anisokorie: Ungleich große Pupillen.
  • Argyll-Robertson-Pupille: Keine Reaktion auf Lichtreiz, aber Akkommodationsreaktion erhalten.

Nervus trigeminus (V) – Drillingsnerv

Verantwortlich für taktile Empfindungen und Schmerz im Gesicht. Er hat drei Hauptäste: N. ophthalmicus, N. maxillaris und N. mandibularis. Eine konzentrische Sensibilitätsstörung kann auf eine nukleäre Läsion hinweisen. Der Masseterreflex (Kieferreflex) führt zu einem abrupten Mundschluss bei Perkussion des Unterkiefers.

Nervus facialis (VII) – Gesichtsnerv

Steuert die Gesichtsmimik und ist für den Geschmackssinn der vorderen zwei Drittel der Zunge zuständig.

  • Läsion des oberen Motoneurons: Die Stirnmuskulatur und der M. orbicularis oculi (Augenringmuskel) bleiben oft beweglich (Stirnrunzeln und Lidschluss sind noch möglich).
  • Läsion des unteren Motoneurons: Führt zu einer vollständigen Lähmung der betroffenen Gesichtshälfte (Hemispasmus).

Weitere mögliche Symptome sind reduzierter Geschmackssinn (vordere 2/3 der Zunge), Hyperakusis (Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen) und Störungen des Tränenflusses. Wichtige Reflexe sind der Kornealreflex (Lidschluss bei Berührung der Hornhaut, über N. trigeminus und N. facialis), der Nasopalpebralreflex (Lidschluss bei Perkussion der Nasenwurzel), der Palmomentalreflex und das Chvostek-Zeichen (Gesichtskontraktion bei Berührung des N. facialis vor dem Ohr).

Nervus vestibulocochlearis (VIII) – Hör- und Gleichgewichtsnerv

Dieser Nerv ist für das Hören und das Gleichgewicht zuständig.

Hörprüfung:

  • Hypakusis (Schwerhörigkeit) oder Taubheit.
  • Unterscheidung zwischen Schallempfindungsschwerhörigkeit (Nervenproblem) und Schallleitungsschwerhörigkeit (Problem der leitenden Strukturen) mittels Rinne-Test und Weber-Test.

Gleichgewichtsprüfung:

  • Beurteilung des Gangbildes und des Romberg-Tests.
  • Nystagmus: Rhythmische, unwillkürliche Augenbewegungen.
  • Schwindel: Kann subjektiv (Gefühl des Patienten, sich zu drehen) oder objektiv (Gefühl, dass sich die Umgebung dreht) sein.

Nervus glossopharyngeus (IX) – Zungen-Rachen-Nerv

Ein gemischter Nerv, zuständig für den Geschmackssinn, Schmerz- und Berührungsempfindungen des hinteren Zungendrittels. Er innerviert auch Teile des Rachens und des Mundes und arbeitet eng mit dem Vagusnerv zusammen.

Nervus vagus (X) – Eingeweidenerv

Eine einseitige Läsion des Vagusnervs, oft in Verbindung mit dem Glossopharyngeus, kann zu einer ipsilateralen Lähmung des weichen Gaumens führen. Eine bitonale Stimme deutet auf eine Stimmbanddysfunktion hin. Eine bilaterale Läsion kann schwerwiegende autonome Störungen wie Erbrechen, abnormen Puls, Blutdruckschwankungen und Atemstörungen verursachen.

Nervus accessorius (XI) – Beinnerv

Innerviert den Musculus trapezius und den Musculus sternocleidomastoideus. Eine Schädigung führt zu Schwierigkeiten oder Unfähigkeit, den Kopf zur gesunden Seite zu drehen und die Schultern zu heben.

Nervus hypoglossus (XII) – Zungennerv

Verantwortlich für die Beweglichkeit der Zunge. Eine Dysfunktion äußert sich durch eine Abweichung der Zunge zur kranken Seite, schwache Zungenbewegungen, Atrophie und Faszikulationen der Zungenmuskulatur.

4. Motorisches System

Inspektion und Palpation

Beurteilung von Haltung, Bewegungseinschränkungen (Defizite), Dystonien, Reizbarkeit und antalgischen Schonhaltungen. Abtasten der Muskelmasse zur Erkennung von Faszikulationen oder Atrophien.

Muskelkraft

Beurteilung der spontanen Bewegungen und des Widerstands gegen Bewegung.

  • Parese: Teilweiser Kraftverlust.
  • Plegie (Paralyse): Vollständiger Kraftverlust.

Muskeltonus

Der Muskeltonus ist der Widerstand, den ein Muskel der passiven Bewegung eines Gelenks entgegensetzt.

  • Hypotonie (verminderter Tonus): Kann peripher (z.B. bei spinaler Bogenunterbrechung) oder zentral (z.B. durch Hemmung vestibulospinaler Bahnen) bedingt sein.
  • Hypertonie (erhöhter Tonus):
    • Spastik: Tonuserhöhung, die nach Beginn der Bewegung nachlässt (typisch für pyramidale Läsionen).
    • Rigor: Gleichmäßige, wachsartige Tonuserhöhung, die bei passiver Bewegung in aufeinanderfolgenden "Zahnradphänomenen" (cogwheel rigidity) auftreten kann (typisch für extrapyramidale Läsionen wie bei Parkinson-Krankheit).
    • Plastische Hypertonie: Stetige Zunahme des Tonus (z.B. bei Parkinson).
    • Antalgische Kontrakturen: Muskelkontraktionen als Reaktion auf schmerzhafte Reize.

Reflexe

Reflexe sind unwillkürliche Muskelkontraktionen als Reaktion auf einen Reiz.

  • Muskeleigenreflexe (MER): Ausgelöst durch Perkussion einer Sehne, führt zu einer Kontraktion des zugehörigen Muskels.
  • Fremdreflexe (Oberflächenreflexe): Kontraktion einer Muskelgruppe als Reaktion auf einen Haut- oder Schleimhautreiz.
  • Pathologische Reflexe: Weisen auf neurologische Schädigungen hin.
    • Babinski-Reflex: Dorsalextension der Großzehe und Spreizen der Kleinzehen bei Bestreichen der Fußsohle, deutet auf eine Schädigung der Pyramidenbahn hin.
    • Archaische Reflexe: Können bei frontalen Läsionen wieder auftreten, z.B. Greifreflex, Palmomentalreflex und Saugreflex.

5. Sensibilität

Die Sensibilität umfasst die Wahrnehmung von Berührung, Schmerz, Temperatur, Lage (Propriozeption) und Vibration.

  • Dysästhesien: Abnorme oder unangenehme Empfindungen.
  • Anästhesie: Vollständiger Verlust der Empfindung.
  • Hypästhesie: Verminderte Empfindung.

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