Der 'Varieties of Capitalism'-Ansatz: Eine Übersicht
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Grundlagen des Ansatzes
Varieties of Capitalism (VoC) bzw. Spielarten des Kapitalismus ist ein politökonomischer Erklärungsansatz, den Wirtschafts-, Sozial- und Politikwissenschaftler nutzen, um die Unterschiede zwischen den Spielarten kapitalistischer Wirtschaftssysteme zu analysieren.
Die Theorie lässt sich anhand dreier zentraler Merkmale zusammenfassen:
- Die Firma als Ausgangspunkt: Das zentrale Unterscheidungsmerkmal zwischen Kapitalismusformen ist die vorherrschende Art der Koordinierung des Wirtschaftsgeschehens für eine Firma. Demnach können Marktbeziehungen, Hierarchien, hybride Formen, aber auch Kooperation und Deliberation unterschieden werden. Je nachdem, welche Koordinationsform vorherrscht, wird ein Land als liberale Marktwirtschaft (LME) oder koordinierte Marktwirtschaft (CME) klassifiziert.
- Institutionelle Komplementaritäten: Es bestehen komplementäre Beziehungen zwischen Institutionen (dieses Konzept geht auf den Ökonomen Masahiko Aoki zurück). Das bedeutet, dass die Effizienz einer Institution durch die Wirksamkeit einer anderen, komplementären Institution gesteigert wird. Dies führt dazu, dass Wirtschaftssysteme relativ stabile Gebilde sind, da Änderungen einzelner Institutionen weitreichende Probleme verursachen können.
- Komparative institutionelle Vorteile: Unterschiedliche Anreizmechanismen innerhalb der Systeme führen zu unterschiedlichen komparativen institutionellen Vorteilen. Das bedeutet, dass Firmen in einem bestimmten Institutionengefüge bei der Produktion bestimmter Güter und Dienstleistungen relativ besser sind als Firmen, die in anderen Umgebungen operieren. Dies widerspricht der weitverbreiteten Ansicht, dass sich unterschiedliche Marktwirtschaften einander angleichen und alle zu einem liberalen System tendieren (Konvergenzthese).
Theorieentwicklung
Der Ansatz hat seine Vorläufer im Neokorporatismus, im Neo-Institutionalismus, in der Neuen Institutionenökonomik sowie in der neueren Wirtschaftssoziologie (insbesondere Mark Granovetter). Hauptvertreter des Ansatzes, der maßgeblich am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) entwickelt wurde, sind Peter A. Hall (Harvard) und David Soskice (Oxford, LSE und WZB) mit ihrem 2001 erschienenen gleichnamigen Buch.
Neuere Ansätze versuchen, die Unterteilung des Varieties of Capitalism-Modells mit verschiedenen Wohlfahrtsmodellen und Wahlsystemen zu koppeln.
Kritik
Der Ansatz wird vor allem wegen seiner statischen Behandlung des institutionellen Wandels kritisiert.
Weiterhin wird dem Varieties of Capitalism-Ansatz vorgehalten, funktionalistisch zu sein. Man könne nicht davon ausgehen, dass Akteure tatsächlich die Produktionskonfiguration unterstützen, die „ihrem“ Modell des Kapitalismus entspricht. Insofern wird in vielen empirischen Arbeiten die Erosion des „deutschen Modells“ nachgezeichnet und mit der von Hall und Soskice postulierten Stabilität dieses Modells kontrastiert.
Hauptvertreter dieser Kritik sind unter anderem Wolfgang Streeck und seine Kollegen am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.
Einzelnachweise
- Granovetter, Mark (1985): Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness. In: American Journal of Sociology, 91(3), S. 481–510.
- Schröder, Martin (2009): Integrating Welfare and Production Typologies. How Refinements of the Varieties of Capitalism Approach Call for a Combination with Welfare Typologies. In: Journal of Social Policy 38, S. 19–43.
- Cusack, Thomas, Torben Iversen & David Soskice (2007): Economic Interests and the Origins of Electoral Systems. In: American Political Science Review 101, S. 373–391.
- Streeck, Wolfgang & Kathleen Thelen (Hrsg.) (2005): Beyond continuity: Institutional change in advanced political economies. Oxford: Oxford University Press.
- Schmidt, Vivien (2002): The Futures of European Capitalism. Oxford: Oxford University Press.
Literatur
- Hall, Peter A. & David Soskice (Hrsg.) (2001): Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford: Oxford University Press.
- Amable, Bruno (2003): The Diversity of Modern Capitalism. Oxford: Oxford University Press.
- Cernat, Lucian (2006): Europeanization, Varieties of Capitalism and Economic Performance in Central and Eastern Europe. New York: Palgrave Macmillan.
- Crouch, Colin (2005): Models of Capitalism. In: New Political Economy, 10(4), S. 439–456.
- Gingerich, Daniel & Peter Hall (2004): Varieties of Capitalism and Institutional Complementarities in the Macroeconomy. An Empirical Analysis. MPIfG Discussion Paper 04/5. Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Online verfügbar.
- Hay, Colin (2005): Two Can Play at That Game…or Can They? Varieties of Capitalism, Varieties of Institutionalism. In: David Coates (Hrsg.): Varieties of Capitalism, Varieties of Approaches. New York: Palgrave Macmillan, S. 106–121.
- Pontusson, Jonas (2005): Varieties and Commonalities of Capitalism. In: David Coates (Hrsg.): Varieties of Capitalism, Varieties of Approaches. New York: Palgrave Macmillan, S. 163–188.
- Rhodes, Martin (2005): Varieties of Capitalism and the Political Economy of European Welfare States. In: New Political Economy, 10(3), S. 363–370.
- Soskice, David (1999): Divergent Production Regimes: Coordinated and Uncoordinated Market Economies in the 1980s and 1990s. In: Herbert Kitschelt, Peter Lange, Gary Marks & John Stephens (Hrsg.): Continuity and Change in Contemporary Capitalism. Cambridge: Cambridge University Press, S. 101–134.
- Schröder, Martin (2013): Integrating Varieties of Capitalism and Welfare State Research: A Unified Typology of Capitalisms. New York: Palgrave.
- Streeck, Wolfgang (1997): German Capitalism. Does it Exist? Can it Survive? In: Political Economy of Modern Capitalism: Mapping Convergence and Diversity. London: Sage, S. 33–54.
Siehe auch
- Kapitalismusmodelle
Weblinks
- Literaturliste zum Thema Varieties of Capitalism auf der Wiwi-Werkbank (ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft)