Voluntarismus: Definition, Geschichte und Anwendungsfelder
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Voluntarismus: Definition und Überblick
Der Ausdruck Voluntarismus (abgeleitet vom lateinischen voluntas, Wille; Lehre von der Bedeutung des Willens) bezieht sich auf philosophische und soziale Auffassungen, die den Vorrang des Willens betonen – meist in Abgrenzung zum Verstand oder zur Vernunft. Je nach Verwendungskontext existieren unterschiedliche spezifische Bedeutungen.
Inhaltsübersicht
- Voluntarismus in Soziologie und Geschichtsphilosophie
- Philosophische Anthropologie und Psychologie
- Metaphysischer Voluntarismus
- Religionsphilosophie und Theologie
- Ethik und politische Philosophie
- Politischer Voluntaryismus (Voluntaryism)
- Voluntarismus als Kampfbegriff im Marxismus
- Literaturhinweise
- Weiterführende Weblinks
- Anmerkungen und Quellen
Voluntarismus in Soziologie und Geschichtsphilosophie
Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird „Voluntarismus“ in der Soziologie als die Ansicht bezeichnet, dass Willensvorgänge eine typische und maßgebende Bedeutung für die Auffassung aller sozialen bzw. psychischen Vorgänge haben.
Der Begriff wurde von Ferdinand Tönnies geprägt. Bei ihm konstituiert der Wille axiomatisch den Erkenntnisgegenstand der Soziologie.[1]
Paul Barth begründete 1897 seine Grundlegung der Geschichtsphilosophie in Anlehnung an Ferdinand Tönnies voluntaristisch.[2]
Philosophische Anthropologie und Psychologie
In der Anthropologie bezeichnet „Voluntarismus“ Auffassungen, wonach der Wille für die Bestimmung des Wesens des Menschen wichtiger ist als die Vernunft, oder beide einander entgegengesetzt werden.
Vertreter eines psychologischen Voluntarismus gehen davon aus, dass das Wollen mit den ihm eng verbundenen Emotionen und Affekten einen integralen Bestandteil der sozialen und psychischen Erfahrung ausmacht. Dessen Stellung liegt gleichauf mit den Empfindungen und Vorstellungen. Demnach sind psychische Prozesse als Prozesse in sich aufzufassen, die auf der subjektiven Reaktion des Menschen auf sein Umfeld beruhen und – wenigstens teilweise – nicht fremdbestimmt sind.
Metaphysischer Voluntarismus
Voluntarismus kann sich auf spezifische philosophische Theorien beziehen, in welchen der Wille als ontologisch grundlegend gilt. Ein Beispiel ist der von Arthur Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung entfaltete sogenannte „metaphysische Voluntarismus“.[3]
Religionsphilosophie und Theologie
Der Ausdruck findet oft im Kontext der Religionsphilosophie Verwendung, um Positionen zu kennzeichnen, welche einen Vorrang des göttlichen Willens vor den menschlichen Rationalitätsmaßstäben lehren. Ein Gegenbegriff dazu ist in diesem Kontext Rationalismus oder Intellektualismus.
Auch die metaethische Position, das moralisch Gute auf den Willen Gottes zurückzuführen, wird als theologischer Voluntarismus bezeichnet.[4] Solche Thesen wurden beispielsweise Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham zugeschrieben, was in der Forschung aber sehr umstritten ist.[5]
Im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurde mit Voluntarismus auch allgemein eine religionsphilosophische Position verstanden, welche den praktischen Lebensvollzug, die subjektiv gelebte Religiosität betonte (anstatt beispielsweise Religion als ein System von Verstandeswahrheiten aufzufassen und den Sinn menschlicher Existenz ganz in der theoretischen Kenntnis dieser Satzwahrheiten zu sehen).[6]
Im englischsprachigen Raum wurde im 19. Jahrhundert die Bezeichnung „Voluntaryism“ (dt. meist als Voluntarismus übersetzt) für eine freikirchliche Bewegung verwendet, welche ebenfalls gegenüber den dogmatischen Verfestigungen der Großkirchen die individuelle Glaubensentscheidung betont. Typisch ist daher die Vorstellung, dass die Kirche als believers church nur die Gemeinschaft der wiedergeborenen Christen umfassen solle.[7] Um den freiwilligen Charakter ihres Bekenntnisses zu wahren und die Religionsausübung nur durch die spontanen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft zu formen, setzten sich Voluntaristen für eine klare Trennung von Kirche und Staat ein.[8] Führende Voluntaristen wie Edward Baines machten sich in den 1840er Jahren gegen eine Schulpflicht und staatliche Trägerschaft von Schulen stark.[9]
Ethik und politische Philosophie
Politischer Voluntaryismus (Voluntaryism)
Im englischen Sprachraum bezeichnet der Begriff des „Voluntaryism“ auch eine soziale bzw. politische Philosophie. Diese Bedeutung hat sich im 19. Jahrhundert in England aus der Bezeichnung für den freikirchlichen Voluntaryism entwickelt und wurde Ende des 20. Jahrhunderts von der libertären Bewegung in den USA wieder aufgegriffen.[10]
Der Voluntaryismus vertritt, wie viele Formen libertärer, libertarianistischer oder anarchokapitalistischer Sozialphilosophie, eine an John Locke angelehnte Eigentumstheorie. Danach soll jede Person über ihren eigenen Körper und die Früchte ihrer Arbeit selbst verfügen dürfen. Der politische Voluntarismus beansprucht ferner das Nichtaggressionsprinzip. Demnach soll Gewalt nur in Form von privater Notwehr, nicht aber als öffentliche Gewalt ausgeübt werden. Staatliche Herrschaft wird nämlich prinzipiell als illegitim angesehen, da sie das individuelle Eigentum einschränkt.
Wichtige Bezugsautoren sind unter anderem Murray Rothbard, Robert LeFevre und diverse Klassiker des Anarchokapitalismus bzw. Marktanarchismus. Ein Unterschied zu anderen Formen des Marktanarchismus wird üblicherweise in der Ablehnung von Gewalt sowie politischer Wahlverfahren als Mittel zur geplanten Abschaffung des Staates gesehen. Auberon Herbert nannte seine Position bereits „Voluntaryism“ und teilte viele Thesen heutiger Vertreter eines politischen Voluntarismus, nicht aber beispielsweise die völlige Ablehnung jeder Staatsregierung.[11] Die Bedeutung im Sinne des politischen Voluntarismus wurde erneut aufgegriffen, als die Zeitschrift The Voluntaryist erschien, die seit 1982 Beiträge zum politischen Voluntarismus publiziert.[12]
Voluntarismus als Kampfbegriff im Marxismus
Im Kontext des Marxismus wurde der Ausdruck Voluntarismus in innermarxistischen Auseinandersetzungen hin und wieder als Kampfbegriff verwendet. Ausgehend von der deterministischen Auffassung des Klassenkampfes wird dabei dem politischen Gegner Voluntarismus vorgeworfen. So bekämpfte Rosa Luxemburg beispielsweise den Voluntarismus der polnischen Sozialistischen Partei. Mitglieder der SED bezeichneten Rudi Dutschke als „Voluntaristen“, weil er libertär-sozialistische Ansätze vertrat.
Literaturhinweise
- Rudolf Eisler: Voluntarismus. In: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. 1904.
- Friedrich Kirchner: Voluntarismus. In: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. 1907.
Weiterführende Weblinks
- Anonymous: Voluntarism. In: Internet Encyclopedia of Philosophy.
- Rico Vitz: Doxastic Voluntarism. In: Internet Encyclopedia of Philosophy.
Anmerkungen und Quellen
- Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887, sowie Ders., Die Tatsache des Wollens, Berlin 1982.
- Paul Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. Grundlegung und kritische Übersicht, 3./4. Auflage, G. R. Reisland, Leipzig 1922.
- Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 1: 1818/1819; Band 2: 1844.
- Vgl. Mark Murphy: Theological Voluntarism.. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- Vgl. etwa C. P. Ragland: Scotus on the Decalogue: what sort of voluntarism?, in: Vivarium 36 (1998), 67–81; T. Williams: Reason, morality and voluntarism in Duns Scotus: a pseudo-problem dissolved, in: Modern Schoolman 74 (1997), 73–94.
- Vgl. mit Bezugnahme auf Reinhold Seebergs Dogmengeschichte Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit: Das 20. Jahrhundert, Mohr Siebeck, 1997, ISBN 3161466446, S. 106.
- Vgl. etwa Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, UTB. Uni-Taschenbücher, Neuauflage 1988, ISBN 3825214885, S. 131.
- „Voluntaryism.“ In: W. and R. Chambers: Chambers's encyclopaedia: a dictionary of universal knowledge for the people, Band 10, 1868.
- Allerdings stellte sich die Alternative einer privaten oder kirchlichen Finanzierung des Bildungssystems mangels ausreichender Ressourcen als unmöglich heraus, was auch Baines später einsehen musste, Gerald Parsons: „Religion in Victorian Britain: Interprétations.“ Manchester University Press, 1989, S. 74.
- On the History of the Word „Voluntaryism“ by Carl Watner. Auf: Voluntarist.com.
- Vgl. z.B. The voluntaryist creed (1906), A plea for voluntaryism (1908), Simpson, London 1908, Digitalisat bei archive.org. Für eine typische Bezugnahme auf A. Herbert vgl. etwa M. Rothbard: Man, economy, and the state with power and market, Ludwig von Mises Institute, Auburn, Alabama 2009, S. 184ff et passim.
- Digitalisate stellt die Homepage der Zeitschrift zur Verfügung. Eine Auswahlausgabe in Buchform existiert mit Carl Watner (Hg.): I Must Speak Out. The Best of The Voluntaryist, 1982–1999, Fox & Wilkes, San Francisco 1999.
Das Adjektiv: Voluntaristisch
Grammatische Merkmale
Wortart: Adjektiv
Steigerung: voluntaristisch, voluntaristischer, am voluntaristischsten.
Worttrennung: vo·lun·ta·ris·tisch, Komparativ: vo·lun·ta·ris·ti·scher, Superlativ: am vo·lun·ta·ris·tischs·ten
Bedeutung und Herkunft
Bedeutung: Auf den Voluntarismus bezogen (Philosophie).
Herkunft: Abgeleitet vom lateinischen voluntas („Wille“); Lehre von der Bedeutung des Willens.
Beispiele für die Verwendung
- „Die handelnden Subjekte handeln willentlich (voluntaristisch).“[1]
- „Manchmal hat es den Anschein, als möchte er gegen den östlichen Kollektivismus eine individualistische, "voluntaristische" Ethik ausspielen — nur daß sich damit sein unbedingter Respekt vor dem angeblichen öffentlichen Sittlichkeitsempfinden schwer vereinbaren lassen will.“[2]
- „Ergebenheit kann man auch spielen. Deshalb konnten in den voluntaristischen Apparat auch Leute niedriger Absichten eindringen.“[3]
Quellen (für das Adjektiv)
Referenzen und weiterführende Informationen:
- [*] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache „voluntaristisch“
- [*] canoo.net „voluntaristisch“
- [*] Uni Leipzig: Wortschatz-Lexikon „voluntaristisch“
- [1] Duden online „voluntaristisch“
- [1] wissen.de – Wörterbuch „voluntaristisch“
- [1] Wahrig Fremdwörterlexikon „voluntaristisch“ auf wissen.de
Quellenangaben zu den Beispielen:
- ↑ http://www.staff.uni-mainz.de/thiedeke/VORL_soz_Hand_WS06_07_ZUSF021106.PDF
- ↑ Dieter E. Zimmer: Gegen das Verschweinen. William S. Schlamm und die Gesinnung der Literatur. In: Zeit Online. Nummer 16, 15. April 1966, ISSN 0044-2070 (Kultur/Literatur: Bertolt Brecht; Karl Kraus; Literatur; Max Frisch; Henry Miller; Ideologie. Seite 3, letzter Absatz, „voluntaristische“ URL, abgerufen am 20. Oktober 2013).
- ↑ Pavel Kohout: Versuch eines Ost-West-Dialogs:. An Günter Grass. In: Zeit Online. Nummer 45, 10. November 1967, ISSN 0044-2070 (Kultur. Günter Grass; Pavel Kohout; DDR; Demokratie; Kinderkrankheit; Kommunistische Partei: Seite 4, 3. Absatz, „voluntaristischen“ URL, abgerufen am 20. Oktober 2013).