Die drei zentralen Klagearten im EU-Recht: Nichtigkeits-, Untätigkeits- und Vertragsverletzungsklage

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Die Nichtigkeitsklage (Art. 263 & 264 AEUV)

Die Nichtigkeitsklage dient der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit positiver Handlungen der Union und ist geregelt in Artikel 263 und 264 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

Gegenstand der Klage

Gegenstand dieser Klage sind entscheidende Handlungen der Organe, die Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten. Dazu gehören insbesondere:

  • Verordnungen
  • Richtlinien
  • Entscheidungen
  • Bestimmte untypische Handlungen

Es müssen drei Bedingungen erfüllt sein:

  1. Die Handlungen müssen bindend sein.
  2. Es müssen endgültige Maßnahmen sein.
  3. Die Handlung muss wirksam gegenüber Dritten sein.

Daher können interne oder vorbereitende Maßnahmen nicht angefochten werden, sondern nur deren Rechtswirkungen.

Klagebefugnis (Aktivlegitimation)

Der Vertrag unterscheidet zwischen privilegierten und nicht-privilegierten Klägern:

  • Privilegierte Kläger: Die Institutionen und die Mitgliedstaaten (MS). Sie können jede Handlung ohne Begründung anfechten.
  • Nicht-privilegierte Kläger: Natürliche oder juristische Personen. Sie können nur in bestimmten Fällen klagen und müssen dies begründen. Sie können nur Rechtsmittel gegen Entscheidungen einlegen, die sie unmittelbar betreffen, sowie gegen alle Regelungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen.

Anfechtungsgründe

Die Rechtsakte können nur aus folgenden Gründen angefochten werden:

  • Mangelnde Zuständigkeit des Organs, das den Akt erlassen hat (wird selten verwendet).
  • Verletzung wesentlicher Formvorschriften (z. B. Fehlen der Rechtsgrundlage oder der verbindlichen Stellungnahme).
  • Verletzung des AEUV oder einer Rechtsnorm bei der Durchführung. Dies ist der häufigste Grund (ca. 99 % der Klagen).
  • Ermessensmissbrauch (Abweichung von der Macht): Der Akt ist formal korrekt und zuständig erlassen, aber der Zweck widerspricht dem öffentlichen Wohl.

Fristen und Rechtsfolgen

Die Frist für die Klage beträgt zwei Monate ab Bekanntgabe oder Veröffentlichung des Rechtsakts.

Wenn der Gerichtshof (EuGH) die Klage schätzt (ihr stattgibt), erklärt das Urteil den Rechtsakt für ungültig. Die Nichtigerklärung kann vollständig oder teilweise erfolgen. Der Widerruf wirkt ex tunc (rückwirkend), wobei der Gerichtshof die Rückwirkung begrenzen kann.

Die Untätigkeitsklage (Art. 265 AEUV)

Die Untätigkeitsklage dient der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit negativer Handlungen (Unterlassungen) der Gemeinschaftsorgane und ist geregelt in Artikel 265 AEUV. Der Zweck der Klage ist es, die Untätigkeit der Organe zu rügen, wenn diese zum Handeln verpflichtet wären.

Kläger und Beklagte

  • Beklagte: Die Organe der Union (nicht die Mitgliedstaaten).
  • Privilegierte Kläger: Die Institutionen und die Mitgliedstaaten. Sie können ohne Begründung klagen.
  • Nicht-privilegierte Kläger: Personen können klagen, wenn das Organ es unterlassen hat, eine ihnen gegenüber verpflichtende Handlung zu erlassen, und ihnen dadurch ein direkter Schaden entsteht.

Verfahrensvoraussetzungen

Bevor Klage erhoben werden kann, muss das Organ aufgefordert werden, tätig zu werden. Das Organ hat daraufhin eine Frist von zwei Monaten zum Handeln. Nach Ablauf dieser Frist kann innerhalb weiterer zwei Monate die Klage beim Gerichtshof eingereicht werden.

Rechtsfolgen

Die Urteile dieser Klageart sind darauf beschränkt festzustellen, ob die Enthaltung gegen EU-Recht verstößt. Der Gerichtshof kann jedoch nicht die Entscheidung selbst treffen oder das Organ zum Erlass eines bestimmten Aktes zwingen.

Die Vertragsverletzungsklage (Art. 258–260 AEUV)

Die Vertragsverletzungsklage dient der Überprüfung der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten (MS). Sie ist geregelt in Artikel 258 bis 260 AEUV.

Definition der Verletzung

Eine Vertragsverletzung liegt vor, wenn ein Mitgliedstaat gegen eine ihm durch das EU-Recht auferlegte Verpflichtung verstößt. Dies kann durch Handeln oder Unterlassen geschehen, und zwar unabhängig davon, welches Organ des Mitgliedstaates die Verletzung begangen hat.

Klageberechtigung

Klageberechtigt sind:

  • Die Kommission (Art. 258 AEUV).
  • Ein anderer Mitgliedstaat (Art. 259 AEUV).

Das Verfahren der Kommission (Art. 258 AEUV)

Das Verfahren gliedert sich in zwei Phasen:

1. Administrative Phase (Vorverfahren)

Stellt die Kommission eine Verletzung fest, leitet sie das Verfahren ein:

  1. Die Kommission sendet ein Aufforderungsschreiben an den Mitgliedstaat und fordert Kommentare.
  2. Wenn die Antwort des MS nicht überzeugend ist oder ausbleibt, erlässt die Kommission eine begründete Stellungnahme, in der sie den MS auffordert, die Verletzung zu beenden.

2. Gerichtliche Phase

Wenn der Mitgliedstaat der begründeten Stellungnahme nicht nachkommt, kann die Kommission den Gerichtshof anrufen. Dies eröffnet die gerichtliche Phase (kontradiktorisches Verfahren).

Das Urteil

Das Urteil des EuGH kann zwei Dinge feststellen:

  • Es weist die Beschwerde ab.
  • Es stellt die Vertragsverletzung des Staates fest (ganz oder teilweise).

Das Urteil ist deklaratorisch (feststellend). Der Mitgliedstaat ist jedoch verpflichtet, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die festgestellte Verletzung zu beenden.

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